Berner Schülerinnen und Schüler führen ihre Startprobleme am Gymnasium auf den Lehrplan 21 zurück. So einfach ist es nicht, findet unser Gastautor.
Der Frachter Schule hat ein Leck im Heck, und keiner der Kapitäne will was zugeben. Der Artikel zu den Klagen der Berner Gymnasiastinnen und Gymnasiasten zeigt exemplarisch: Verwaltung und Erziehungswissenschaft flüchten sich in Schutzbehauptungen.
1. Die Spachkrise ist eine Realität
Lange schienen die Schüler und Schülerinnen nur in Lesen, Rechtschreibung und Grammatik zu schwächeln. Die Rückmeldungen von Berufsschulen, Gymnasien und Universitäten zeugen nun aber von einer umfassenden Sprachkrise, die auch Wortschatz und Satzbau erfasst. So zeichnet sich am Bildungshorizont eine Generation von Lehrlingen und Studierenden ab, die Mühe bekundet, sich mündlich und schriftlich noch verständlich auszudrücken. Der Kollateralschaden ist gross; ganze Berufsbildungs- und Studiengänge leiden darunter.
2. Der Lehrplan befördert den Abschwung
Auf der Spurensuche landen die Medien bei den Zeichen der Zeit. Tatsächlich verursacht die digitale Dauerbeschäftigung der Jugendlichen mit ihren Peers und sich selbst zu viel Ablenkung. Tatsächlich beeinträchtigt die Heterogenität den Lernerfolg. Gerade im Kanton Bern gibt es einen Trend zu Schulzentren mit heterogenen Klassen. In Zeiten von Personalmangel bedeutet das: zu viele Kinder in der Klasse, zu wenig Betreuungszeit.
Neu ist aber, dass Jugendliche ihre Einstiegsprobleme am Gymnasium mit dem Lehrplan 21 in Verbindung bringen: «Kulturschock!» Mich überrascht der Denkansatz nicht; umso mehr befremdet mich die Reaktion des Erziehungswissenschaftlers.
Statt die Probleme einzuräumen, bezichtigt Marc Eyer die Mittelschulen der Rückständigkeit: Die Volksschule sei pädagogisch weiter als die Gymnasien mit ihrer Inhaltsorientierung und ihren überfüllten Fächern. Gleichzeitig findet er, die Studierfähigkeit, Kompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen, sei wichtiger als vollständiges Vorwissen in Studienfächern.
Zum Kuckuck! Genau diese Kulturtechniken kriegt ja die Volksschule nicht mehr hin. Und auch in den letzten Leistungstests (Nordwestschweiz) gibts keine Anzeichen, dass der Abschwung mit dem Lehrplan gebremst wurde – im Gegenteil.
3. Die Lehrplan-Fülle überfordert das Personal
Abgedroschen ist Eyers Versuch, Inhalte gegen Kompetenzen ausspielen zu wollen. Jeder Lernerfolg ist ein Zusammenspiel von inhaltlichem Wissen, Kompetenzen und mentaler Bereitschaft. Der Lehrplan 21 überfordert das Personal aber seiner Fülle wegen. In vielen Fächern werden Dutzende von Kompetenzen aneinandergereiht, ohne Gewichtung.
An der Fortbildungstagung wird dann der «Mut zur Lücke» propagiert. Die Gefahr der Verzettelung, des Lernens ohne Aufbau und Verknüpfung, räumt dieser Rat nicht aus dem Weg. An die Säcke muss jetzt die Bildungspolitik: den Lehrplan auf die relevanten Kompetenzen zurückstutzen – subito.
4. Die Maturitätsquote ist doppelt so hoch
Die Bildungsdirektion Bern suggeriert mit dem Hinweis, die Übertrittsquote liege konstant bei 20 Prozent, die Gymnasien hätten dieselbe Auswahl wie früher. Seit 2005 stehen sie aber in Konkurrenz zu den Berufsmittelschulen und seit 2008 zu den Fachmittelschulen. Betrachten wir schweizweit nur die gymnasiale Maturität, dann erfolgte in vierzig Jahren eine Verdoppelung von 10 auf 22 Prozent. Beziehen wir die neuen Bildungsgänge Berufsmatur und Fachmatur ein, hat sich die Quote seit 1980 vervierfacht; im Jahr 2022 absolvierten 41,9 Prozent eine Maturität.
Die Statistiken verraten noch mehr: Leistungsstarke Jungs wandern ab zur Berufsmatur. Den Ausfall kompensieren die Gymer mit schwächeren Kandidatinnen und Kandidaten. Bildungslücken nimmt man also in Kauf. Auch dafür gibt es Indizien. Die Prüfungsaufgaben der Gymnasien wurden in den letzten fünfzehn Jahren kontinuierlich vereinfacht, gerade im Deutsch.
Und wer beim Eintritt schon Lernlücken hat, wird zum Stützkurs gebeten. Seit August 2019 verfügt jedes Berner Gymnasium über ein Konzept zur Förderung der basalen Studierkompetenzen in der Erstsprache und in Mathematik. Das Aufholprogramm soll sicherstellen, dass alle SchülerInnen die grundlegenden Anforderungen erreichen. Denn am Anspruchsniveau der Maturität hält der Bund fest. Gut so.
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