«Endlich können wir offen über den Brexit sprechen»

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Premier Keir Starmer bricht das Tabu. Mit einer schonungslosen Bilanz will er Nigel Farage die Schuld an der Wirtschaftskrise geben – und den Rechtspopulisten den Wind aus den Segeln nehmen.

Die britische Finanzministerin Rachel Reeves kritisiert erstmals offen die negativen Wirtschaftsfolgen des Brexit. Das Office for Budget Responsibility prognostiziert 4 Prozent weniger Wirtschaftswachstum für Grossbritannien. Labour-Chef Starmer wirft Brexit-Befürworter Farage vor, die Bevölkerung getäuscht zu haben. Farages Partei Reform UK profitiert trotz Brexit-Kritik in aktuellen Umfragen.

Fünf Jahre nach dem Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union haben sich nun erstmals hochrangige Labour-Politiker zur Lage geäussert – und das äusserst kritisch. Finanzministerin Rachel Reeves erklärte diese Woche, die Auswirkungen des Brexit auf die britische Wirtschaft seien schlimmer, als die Gegner des Austritts damals befürchtet hätten.

Tatsächlich war der Brexit zu einem Tabuthema geworden bei Labour, nachdem die Partei bei den Unterhauswahlen von 2019 in den alten Industriegebieten Nord- und Mittelenglands Millionen Wähler verloren hatte. Aus Angst davor, die vielen Brexit-Befürworter unter den eigenen Anhängern weiter zu verprellen, hatte der Labour-Vorsitzende Sir Keir Starmer seiner Partei in diesem Punkt Schweigen verordnet, als das Vereinigte Königreich erst einmal aus der EU ausgetreten war.

Keir Starmer sieht nichts von Farages «neuem Land»

Obwohl Starmer und seine engsten Kollegen eigentlich immer überzeugte Befürworter der EU waren, trauten sie sich nach 2019 nicht mehr, den Brexit infrage zu stellen. Bei den letzten Parlamentswahlen im Juli des vergangenen Jahres spielte der Brexit im Labour-Wahlprogramm überhaupt keine Rolle mehr. Starmer hat auch nach seiner Wahl zum Premierminister mehrfach bekräftigt, dass eine Rückkehr Grossbritanniens in den EU-Binnenmarkt oder die Zollunion für ihn ausgeschlossen sei.

Daran hat sich auch in diesem Herbst nichts geändert. Aber erstmals verurteilt die Regierungsspitze die Brexit-Entscheidung jetzt unverblümt. Von dem «neuen Land», das die Brexit-Schlüsselfigur Nigel Farage den Briten einst für die Post-Brexit-Zeit versprochen habe, könne keine Rede sein, sagte der Regierungschef auf dem Labour-Parteitag Anfang Oktober.

In Wirklichkeit hätten «die selbst ernannten Champions der arbeitenden Bevölkerung unser Land belogen, Chaos entfesselt und allem den Rücken gekehrt nach dem Brexit», sagte Starmer. Allein schon das Problem der «kleinen Boote», in denen Flüchtlinge und Migranten nun zu Tausenden über den Ärmelkanal setzten, hätte sich im EU-Rahmen leichter lösen lassen. Stattdessen habe Farage feierlich versichert, negative Folgen gebe es beim Brexit nicht.

Rachel Reeves warnt vor enormen Kosten

Vor allem im ökonomischen Bereich haben sich solche Brexit-Folgen immer deutlicher abgezeichnet. Schon früh hat die britische Wirtschaftsaufsichtsbehörde – das Office for Budget Responsibility (OBR) – prophezeit, dass sich das Wirtschaftswachstum Grossbritanniens wegen des Brexit langfristig um 4 Prozent verringern wird.

Am letzten Wochenende klagte der Gouverneur der Bank von England, Andrew Bailey, auf absehbare Zeit werde der Brexit jedenfalls negative Folgen für die Wirtschaft haben. Das OBR sieht den EU-Austritt, zusammen mit anderen Schwierigkeiten, als Grund für das derzeitige grosse Haushaltsdefizit Grossbritanniens.

Schatzkanzlerin Reeves, die wegen dieses Lochs bei ihrer Haushaltserklärung im nächsten Monat voraussichtlich weitere Steuererhöhungen und Kürzungen von Sozialleistungen verkünden wird, meinte dazu jetzt, der Brexit habe «zweifellos ernste und lang anhaltende Konsequenzen». Er habe der Wirtschaft enorme unnötige Kosten aufgebürdet. Die Brexiteers hätten keinerlei Plan für die Post-Brexit-Zeit gehabt.

Zustimmung und Erleichterung löste der neue Tonfall an der Spitze bei vielen Labour-Leuten aus. «Ich bin nur froh, dass wir jetzt endlich offen über das Brexit-Problem sprechen können», fand etwa Gesundheitsminister Wes Streeting. Es sei frustrierend gewesen, so lange schweigen zu müssen in diesem Punkt.

Brexit-Vater Nigel Farage beackert neue Themenfelder

Einig waren sich alle Kommentatoren in London darin, dass Starmer und Reeves hier versuchten, Farage als dem «Vater des Brexit» Schuld an den kommenden harschen Spar- und Steuermassnahmen der Regierung zuzuweisen. Farages heutige Partei, die Rechtspartei Reform UK, liegt derzeit in allen Umfragen weit vor den etablierten Parteien. Labour kommt nur noch auf 20 Prozent.

Es bleibt allerdings fraglich, ob Labours neue Angriffe auf Farage wegen des Brexit die gewünschte Wirkung erzielen. Farage hat sowieso immer die konservativen Tories kritisiert, dass sie den Brexit nicht entschieden genug umgesetzt hätten. Mittlerweile spricht er selbst kaum noch über den Brexit, sondern präsentiert sich den Wählern in anderen Themen, etwa der Einwanderung, erneut als Rebell gegen die unbeliebte Regierung und das gesamte ungeliebte «Establishment».

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