Während die Bundesregierung den Bau neuer „wasserstofffähiger“ Gaskraftwerke vorbereitet, warnt die Energieökonomin Claudia Kemfert in puncto Erdgas vor einem strategischen Fehler. Deutschland riskiere, bei der Energiewende den Anschluss zu verlieren – nicht wegen zu weniger Gaskraftwerke, sondern wegen fehlender Speicher, mangelnder Flexibilität und unzureichender sozialer Gerechtigkeit.
„Erdgas ist keine Brücke, sondern eine Sackgasse“
Erdgas galt lange als Brückentechnologie – als vergleichsweise klimafreundlicherer Übergang von Kohle zu erneuerbaren Energien. Doch dieses Narrativ wankt. Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), sprach im Interview mit Klimareporter° Ende September Klartext: „Erdgas ist keine Brücke, sondern eine Sackgasse.“
Wissenschaftliche Studien stützen diese Einschätzung. Eine vielzitierte Untersuchung, veröffentlicht 2018 im Fachmagazin Science, zeigt etwa, dass Methan-Leckagen in der gesamten Lieferkette den Klimavorteil von Erdgas gegenüber Kohle zunichtemachen können. Bereits geringe Leckageraten von rund zwei Prozent heben die Emissionsersparnis wieder auf – insbesondere im 20-Jahres-Horizont, der für die Einhaltung der Klimaziele entscheidend ist.
Die Europäische Union hat mit der 2024 eingeführten Methan-Verordnung (EU) 2024/1787 reagiert: Sie verpflichtet Betreiber*innen zur regelmäßigen Messung, Meldung und Reparatur von Methanlecks. Die Umsetzung in den Mitgliedstaaten läuft derzeit an.
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„H2-ready“: Ein Etikett ohne Substanz?
Die von Bundeswirtschaftsministerin Katharina Reiche vorgestellte Kraftwerksstrategie sieht neue Gaskraftwerke vor, die zukünftig mit grünem Wasserstoff betrieben werden sollen. Doch Expert*innen zweifeln an der Realisierbarkeit: Der aktuelle Deutschlandreport der Internationalen Energieagentur (IEA) weist darauf hin, dass grüner Wasserstoff vor 2035 knapp und teuer bleiben dürfte – und deshalb zunächst in der Industrie gebraucht werde.
Ohne verbindliche Fristen für die Umrüstung droht aus dem Versprechen „H2-ready“ ein bloßes Etikett zu werden. Kemfert fordert daher eine klare Priorisierung: „Statt fossile Kraftwerke mit neuen Subventionsmechanismen zu sichern, sollten wir Speicher und Flexibilitäten fördern.“
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Flexibilität schlägt fossile Reserve
Dass ein auf Windkraft und Photovoltaik ausgerichtetes Stromsystem funktioniert, zeigen Länder wie Dänemark oder Spanien. Entscheidend ist nicht die Zahl fossiler Backup-Kraftwerke, sondern die Fähigkeit des Systems, auf Schwankungen flexibel zu reagieren.
Laut einer Studie von Agora Energiewende benötigt Deutschland bis 2035 rund 100 Terawattstunden an verschiebbarer Last – etwa durch Elektroautos, Wärmepumpen oder Haushaltsbatterien. Trotzdem konzentrieren sich die Ausschreibungen bislang auf fossile Kapazitäten.
Die jüngste Reform (EU) 2024/1747 des Strommarkts der Europäischen Union – die sogenannte Strommarktdesign-Reform (Electricity Market Design, EMD) – ermöglicht zwar Kapazitätsmechanismen, setzt aber klare Anreize für kohlenstoffarme Technologien und Speicherlösungen. Entscheidend wird nun die Ausgestaltung der deutschen Ausschreibungen.
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Akzeptanz sichern durch Teilhabe
„Viele Haushalte fühlen sich überlastet. Die aktuelle Stromsteuerentlastung nützt vor allem der Industrie, während kleine Einkommen kaum profitieren – das ist sozial ungerecht“, so Kemfert. Stattdessen brauche es eine gerechte Finanzierung der Energiewende.
Für die Vize-Vorsitzende des Sachverständigenrats für Umweltfragen der Bundesregierung gehören dazu neben der Unterstützung für Haushalte mit niedrigem Einkommen auch die Förderung für Wärmepumpen und Solaranlagen sowie die Senkung der Netzentgelte. „Wer die Akzeptanz sichern will, muss die Energiewende auch als Gerechtigkeitsprojekt verstehen.“
Laut einer 2024 veröffentlichten YouGov-Umfrage im Auftrag der Agentur für Erneuerbare Energien befürworten rund 80 Prozent der Menschen in Deutschland den Ausbau erneuerbarer Energien. Besonders hoch ist die Zustimmung, wenn Bürger*innen sich aktiv beteiligen können – etwa über Energiegenossenschaften oder lokale Projekte.
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Mögliche Stolperfalle
Obwohl die Ausbauziele für erneuerbare Energien ambitioniert klingen, mahnt Kemfert zur Eile. Genehmigungsverfahren seien weiterhin zu lang, der Ausbau der Photovoltaik werde durch unsichere Rahmenbedingungen gebremst, und der Netzausbau hinke hinterher. Gleichzeitig fehlt es an einem klaren Vorranggesetz für Wind und Solar. Stattdessen fließt Geld in fossile Reservekapazitäten.
Kemferts Fazit: „Wir müssen Solar- und Windenergie Vorrang geben, nicht Gas. Genehmigungsverfahren müssen radikal vereinfacht, die Bürgerenergie muss stärker gefördert und die Digitalisierung in allen Bereichen forciert werden. Dazu brauchen wir systemisch gedachte Flexibilität: Stromspeicher, steuerbare Lasten, Digitalisierung. Nur so schaffen wir ein stabiles, kosteneffizientes Energiesystem.“
Der Bau weiterer Gaskraftwerke unter dem Label „H2-ready“ kann kurzfristig Sicherheit suggerieren – droht aber langfristig zur Kosten- und Klimafalle zu werden. Entscheidend ist, ob die politischen Weichen jetzt auf Flexibilität, Speicher und soziale Gerechtigkeit gestellt werden.
Quellen: Klimareporter°; „Assessment of methane emissions from the U.S. oil and gas supply chain“ (Science, 2018); Amtsblatt der Europäischen Union; International Energy Agency; „Powering the transition: Balancing electrification, power prices, and climate goals in Germany“ (Agora Energiewende, 2025); Agentur für Erneuerbare Energien
