Erdgas: Putins leiser Winterkrieg – das kommt auf Millionen Haushalte zu

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Mit dem Einsetzen der ersten Herbstwinde kehrt auch eine altbekannte Frage zurück: Wie sicher ist Europas Energieversorgung wirklich? Schon in der Vergangenheit hat Moskau gezielt die Energieversorgung Deutschlands und seiner Verbündeten ins Visier genommen – nicht mit Raketen, sondern mit Strategien hybrider Kriegsführung. Darunter versteht man die Verknüpfung klassischer militärischer Mittel mit nicht-militärischen Methoden wie Desinformation, Cyberattacken, Sabotage, gezielten Störungen und verdeckten Operationen.

Drohnen, Anker und Algorithmen: Werkzeuge der hybriden Kriegsführung

Im Laufe der vergangenen Monate hat Russlands hybride Kriegsführung neue Formen angenommen. Und sie betrifft direkt das, was Millionen europäische Haushalte am meisten fürchten: ihre Heizkosten und die Sicherstellung der winterlichen Energieversorgung.

Im September und Oktober 2025 registrierten europäische Sicherheitsbehörden eine Welle von Drohnenflügen über Flughäfen und Energieanlagen in Dänemark, Norwegen, Polen, den baltischen Staaten und Deutschland. Kopenhagen und Oslo unterbrachen zeitweise den Flugbetrieb und sperrten den Luftraum. Dänemarks Behörden bezeichneten die Vorfälle als „die schwerwiegendsten Angriffe auf kritische Infrastruktur seit Jahren“ – ohne dass ein einziger Schuss fiel. Und auch Bundeskanzler Friedrich Merz fand im Gespräch mit Caren Miosga klare Worte: „Die Bedrohung ist real. Wir sind nicht im Krieg, aber wir leben auch nicht mehr im Frieden.“

Doch die Bedrohung endet nicht in der Luft. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass auch Vorfälle unter Wasser dramatische Folgen für Europas Energieinfrastruktur haben können:

  • Balticconnector-Vorfall (8. Oktober 2023): Die Balticconnector-Gasleitung zwischen Finnland und Estland wurde beschädigt. Die finnische Polizei erklärte, dass der Schaden durch den Anker des unter Hongkong-Flagge fahrenden Newnew Polar Bear verursacht wurde – man stellte weder eine Beteiligung Russlands noch eine Absicht fest. Die Leitung war bis 22. April 2024 außer Betrieb.
  • Estlink-2-Vorfall (25. Dezember 2024): Die Stromverbindung zwischen Finnland und Estland wurde beschädigt. Die finnische Polizei ermittelte gegen das Schiff Eagle S wegen eines möglichen Ankerkontakts. Der Europäische Auswärtige Dienst (EEAS) stufte das Schiff im Rahmen einer Erklärung am Folgetag als Teil von Russlands „Schattenflotte“ ein – einer Flotte, die laut EU nicht nur Sanktionen umgeht, sondern auch Sicherheit und Infrastruktur bedroht.

Solche Vorfälle machen deutlich, dass sowohl Unfälle als auch ein einziger gezielter Eingriff die Energieversorgung ganzer Länder beeinträchtigen kann – besonders im Winter, wenn die Nachfrage ihren Höhepunkt erreicht.

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Angriffe auf Europas Strom- und Gasnetze

Ein weiteres Schlachtfeld der hybriden Kriegsführung verläuft im digitalen Raum. Schon am Tag des Angriffs auf die Ukraine wurde das Satellitennetz KA-SAT sabotiert. Der Rat der Europäischen Union erklärte am 10. Mai 2022, dass dieser Angriff von der Russischen Föderation ausging. Der Angriff legte unter anderem die Fernüberwachung von über 5.800 Windturbinen in Deutschland lahm – ohne physische Zerstörung, aber mit massivem Kontrollverlust im Energiesektor.

Seitdem sind Europas Energiesysteme noch stärker digitalisiert – mit vernetzten Steuerungen, Sensoren und Satellitenverbindungen, die Echtzeitdaten liefern. Laut der Europäischen Agentur für Cybersicherheit (ENISA) vergrößert diese Entwicklung die Angriffsfläche dramatisch. So könnte ein Cyberangriff auf Kommunikationssysteme heute genügen, um Netzsteuerungen zu stören, Reaktionszeiten zu verzögern oder Reparaturteams zu behindern – ohne sichtbare Explosion, aber mit realen Folgen.

Wie genau ein solcher Angriff aussehen kann, hat jüngst ein Team vom Vishwakarma Institute of Technology (VIT) im indischen Pune demonstriert. Die Forschenden simulierten winzige, gezielt platzierte Fehler in Sensordaten, mit denen sie signifikant den Betrieb einer Erdgas-Pipeline beeinflussten. Mit einer sogenannten False-Data-Injection (FDI) verfälschten sie Druck- und Durchflusswerte so geringfügig, dass die Daten keine Alarme auslösten – doch führten sie dazu, dass die Pipeline weit weniger Gas transportierte als vorgesehen.

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Zwischen stabil und fragil

Trotz dieser Risiken zeigt sich Europa auf dem Papier gut gerüstet: Zum 1. Oktober 2025 meldete die Europäische Kommission einen Gas-Speicherfüllstand von 83 Prozent. Das klingt komfortabel, ist aber weniger als im Vorjahr. Laut dem Winterversorgungsbericht 2025/26 des Netzwerks der Europäischen Gasnetzbetreiber (ENTSOG) reichen die Reserven aus, um auch bei durchschnittlicher Witterung über den Winter zu kommen – vorausgesetzt, keine zentrale Infrastruktur fällt aus.

Doch genau hier liegt die Schwachstelle. Der jüngste Ausfall der Rhône-Pipeline in Frankreich zeigt, wie empfindlich das Gleichgewicht ist: Der Transport von verflüssigtem Erdgas (Liquefied Natural Gas, LNG) aus südfranzösischen Terminals Richtung Norden ist Reuters zufolge derzeit eingeschränkt. Gleichzeitig sind norwegische Exportanlagen wie Kollsnes – über die 2024 ein Rekordvolumen laut Betreiber Gassco von 117,6 Milliarden Kubikmetern nach Europa gelangte – potenzielle Engpasspunkte. Schon ein kurzer Stillstand könnte den europäischen Gaspreis nach oben treiben.

Europa versucht, die Lücken zu schließen. Die Nordatlantikpakt-Organisation (NATO) hat mit der Anfang 2025 gestarteten Mission „Baltic Sentry“ ihre maritime Überwachung im Ostseeraum verstärkt, um Unterwasserinfrastruktur besser zu schützen. Parallel baut die Europäische Union mit der „European Drone Defence Initiative“ ein Abwehrsystem gegen Drohnen auf – erste Einsätze sind ab 2026 geplant.

Auf regulatorischer Ebene greifen nun die Richtlinie (EU) 2022/2555 über Maßnahmen für ein hohes gemeinsames Cybersicherheitsniveau (NIS2) sowie die Richtlinie (EU) 2022/2557 zur Resilienz kritischer Einrichtungen (CER). Sie verpflichten Energieunternehmen zu strengeren Sicherheitsstandards, Risikomanagement und Meldepflichten bei Vorfällen. Allerdings ersetzt Bürokratie keine operative Widerstandskraft. Was Europa wirklich braucht, sind dezentrale Energiesysteme, regionale Speicher, redundante Leitungen und eine schnelle Unterwasser-Reparaturkapazität – sonst bleibt das Netz nur auf dem Papier stabil.

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Die Wissenschaft hinter der Verwundbarkeit

Technisch betrachtet ist Europas Energiesystem ein „skalenfreies Netzwerk“ – also ein System, in dem wenige Knotenpunkte den Großteil des Energieflusses tragen. Dazu gehören Kompressorstationen, LNG-Terminals oder grenzüberschreitende Stromverbindungen. Ein Angriff auf nur einen dieser Knoten kann das gesamte System aus dem Gleichgewicht bringen. Klimawissenschaftlich kommt ein weiterer Unsicherheitsfaktor hinzu: Der Copernicus Climate Service prognostiziert für den Winter 2025/26 zwar überdurchschnittlich milde Temperaturen, warnt aber vor möglichen arktischen Kaltlufteinbrüchen, die gleichzeitig Nachfrage und Infrastruktur belasten könnten.

Russland nutzt hybride Kriegsführung, um Unsicherheit zu säen. Nicht jede Aktion zielt darauf, physisch Schaden anzurichten. Oft reicht es, Zweifel zu wecken, Kosten zu erhöhen oder politische Spaltungen zu vertiefen. Drohnen, Cyberangriffe und gezielte Störungen im Ostseeraum sind Instrumente einer Strategie, die den Westen destabilisieren soll – mit minimalem Risiko, aber maximaler Wirkung.

Für Europa heißt das: Energiepolitik ist längst Sicherheits- und Verteidigungspolitik geworden. Statt nur Speicher zu füllen, muss der Kontinent Redundanz, Resilienz und Reaktionsgeschwindigkeit aufbauen.

Quellen: Poliisi (Polizei Finnlands); European External Action Service; European Council; European Commission; „Winter Supply Outlook 2025/26“ (ENTSOG, 2025); Reuters; Gassco; Amtsblatt der Europäischen Union; Copernicus Climate Service

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