INTERVIEW – «Die Schule wird als Projektionsfläche für Utopien und Ideologien missbraucht», sagt Allan Guggenbühl

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Herr Guggenbühl, wären die Schulen ein Paradies, wenn da nur nicht die Buben wären?

Das wären sie definitiv nicht. Auch Mädchen haben ihre Schattenseiten. Sie können etwa Lehrer besser manipulieren, um ihre Interessen durchzusetzen.

Erzielen Mädchen deshalb die besseren Noten, auch bei gleicher Leistung? Die Benachteiligung der Buben ist belegt.

Ja, Mädchen werden bevorteilt, aber das geschieht unbewusst. Weil sie eben angenehmer sind, weil sie realisieren, dass es um persönlichen Kontakt geht. Sie sagen oft, was die Lehrerin hören will. Buben prahlen gerne mit ihren Taten.

Warum haben Buben die Neigung zum Störenfried?

Weil sie gerne polarisieren, das Extreme suchen. Hinter dem «Blöd-Tun» versteckt sich ein Versuch der Beziehungsaufnahme – zur Lehrerin oder zu den Kollegen. Man gibt sich eine Bühne. Auf diese Weise finden sie ihre Position in der Klasse: Einer ist der Witzigste, Gescheiteste, Stärkste, und einer ist auch der «dumme Siech» – aber selbstverständlich sind sie alle Kollegen.

Warum können Lehrer mit diesem Verhalten so schlecht umgehen, so dass es in Benachteiligung mündet?

Mit dem Beziehungstalk, der heute empfohlen wird, erreicht man viele Buben nicht. Fragen wie «Wie fühlst du dich?» oder «Wie geht es dir?» überfordern sie. Was ankommt, sind konkrete Fragen und Themenvorschläge. Wie war der Fussballmatch am Wochenende? Was macht deine Sammlung von Steinen? Zeigt man aufrichtige Neugierde an ihren Interessen, dann kann man eine Beziehung aufbauen. Bei Männerfreundschaften verhält es sich ähnlich. Das Persönliche anzusprechen, ist nicht zwingend notwendig für eine gute Beziehung.

Das klingt altmodisch. Heute gilt die Überzeugung, dass man auf jedes Kind individuell eingehen solle. Nach dem Gemütszustand zu fragen, ist doch rücksichtsvoll.

Das Problem ist, dass viele Kinder ihre Emotionen nicht mit der Lehrerin teilen wollen. Im Schulkontext halten sie sich mit persönlichen Aussagen zurück. Sie wollen sich schützen. Das Fragen nach ihren Gefühlen erleben sie als Heuchelei oder Psychokitsch. Wenn den Lehrern Gefühle wichtig sind, dann sollen sie entsprechend handeln, das genügt.

Warum? Persönliche Nähe ist per se positiv . . .

Sicher, doch wenn sie systematisch und als didaktisches Mittel eingesetzt wird, dann droht ein Kontraeffekt. Schulklassen sind keine Gemeinschaft von Freunden, sondern Zwangsgemeinschaften, in denen jeder seine Rolle finden muss. Ein Abbild der Gesellschaft.

Also herrscht an den Schulen zu viel «Gschpürsch-mi-Fühlsch-mi»?

Ja. Das Problem sind nicht die Lehrer, die geben sich wirklich Mühe. Es ist der aktuelle pädagogische Diskurs, der auch in den pädagogischen Hochschulen dominiert: Gentle Teaching. Der Lehrer wird aufgefordert, die Schüler mit einer quasitherapeutischen Brille anzugehen, ihre Probleme zu erkennen, Hilfe anzunehmen, damit sie freiwillig kooperieren und selbsttätig lernen. Je mehr Erwachsene sich persönlich um die Schüler kümmern, desto besser. Diese Gleichung stimmt jedoch nicht. Je mehr Erwachsene im Schulzimmer sind, desto schwächer ist der Gruppenzusammenhalt der Kinder. Die Gemeinschaft mit all ihren Vor- und Nachteilen leidet – und es kommt zu einer Zunahme von Störenfrieden.

Was wäre zu tun, wie würden Sie konkret unterrichten?

Letzten Herbst war ich in einer Klasse, die niemand unterrichten wollte. Es begrüssten mich lauter coole, zynische Jungs, die mit Psychologen gar nichts am Hut hatten. Ich war ratlos und sagte spontan: Ich weiss nicht, ob ich mit euch arbeiten will, ich arbeite nur mit Winnern, Loser interessieren mich nicht! Das war politisch nicht ganz korrekt, doch ihre Lebensgeister wurden geweckt. Sie begehrten auf und wollten mir beweisen, dass sie Winner sind! Darum waren sie bereit, mit mir zu arbeiten.

Das mag ja sein, zementiert aber klischierte Rollenbilder.

Klischees enthalten aber oft einen Kern Wahrheit. Wenn man Buben als Gruppe anspricht, braucht es eine andere Sprache als im Einzelkontakt. Man muss sich inszenieren.

Sie sagen, dass diese falsche Herangehensweise an den pädagogischen Hochschulen geprägt werde. Wie kann es sein, dass man sich dort so verschätzt?

Weil vergessen wird, dass es sich bei der Schule um eine anarchische Institution handelt. Das Geschehen wird von unzähligen schwer kontrollierbaren Faktoren beeinflusst. Lehrer sind permanent mit Chaosabwehr beschäftigt. Der Unterricht basiert heute jedoch auf Vorstellungen, wie das Leben sein sollte. Diese Haltung wird den Kindern oktroyiert. Durch diese ideologische Verblendung wird die Schule nun allerdings zu einem Objekt der Arbeit an einer besseren Gesellschaft. Das ist nicht zum Wohle der Kinder.

Jetzt übertreiben Sie.

Nein. Die Hochschulen brauchen dringlichst Praktiker. Die Benachteiligung der Buben ist auch eine Auswirkung einer allgemein akzeptierten Gesellschaftskritik an Männern. Man erkennt Problematiken – und das ist auch gut –, doch problematisch ist, dass man sie über die Schule beheben will. Sie wird zweckentfremdet und droht ideologisiert zu werden. Guter Unterricht beruht auf der Reflexion praktischer Erfahrungen und kaum auf den Erkenntnissen evidenzbasierter Forschung. Es herrscht jedoch der Irrglaube, dass die Forschung mehr zur Schule zu sagen habe als die Männer und Frauen an der Front. Man richtet sich nach Utopien aus und vergisst die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Kinder.

Welche Utopien finden denn den Weg an die Schulen?

Es geht um Vorstellungen à la: Alle werden sich besser verstehen, wenn sie sich gegenseitig zuhören, sich soziale Kompetenzen aneignen. Es geht um die Gleichheit der Geschlechter oder Empathie als Zaubermittel. Schulen sind ein konservatives Element, keine Innovationsstätten. Sie sollen Traditionen weitergeben und aufzeigen, wie das Leben ist – und nicht so, wie es sich die Verantwortlichen an den pädagogischen Hochschulen vorstellen.

Stellen sich diese eine woke Schule vor?

Staatliche Institutionen neigen dazu, woke zu werden. Sie geben sich den Auftrag, die Gesellschaft zu verändern und eine Vision zu vertreten, statt dem Volk zu dienen.

Was Sie beschreiben, klingt wie ein gerne geäusserter Vorwurf: Der Lehrerberuf ist feminisiert, die Interessen der Buben werden rasch als problematisch eingestuft. Sie nehmen aber die Lehrer von Ihrer Kritik aus.

Nein, aber so, wie Sie es schildern, klingt es so, als ob die Krise der Buben vor allem an den Lehrerinnen liege. Das stimmt nicht. Ich habe viel mit Lehrerinnen zu tun, die super mit Buben umgehen. Das Problem liegt am aktuellen pädagogischen Diskurs. Zum Beispiel die Idee des selbsttätigen Lernens. Tönt gut. An Hochschulen wird das als der Weisheit letzter Schluss betrachtet. Das Problem ist jedoch, dass Buben sich selbsttätig anderem, oft nicht schulkonformem Stoff zuwenden. Sie passen sich nicht den impliziten Erwartungen an.

Diese benachteiligende Form des Unterrichts ist nicht neu. Sie schrieben vor zwanzig Jahren das Buch «Kleine Machos in der Krise», der Kinderarzt Remo Largo sagte nur wenig später: «Der gute Schüler von heute ist ein Mädchen.» Wie kann es sein, dass man das so lange Zeit akzeptiert?

Wir weigern uns, den Fakt der Benachteiligung anzuerkennen. Warum, weiss ich auch nicht. Wahrscheinlich wegen der verakademisierten Bildungselite, die die Schule als Projektionsfläche für Utopien und Ideologien missbraucht. Dabei ist Schule-Geben wie eine Lehre. Keine Wissenschaft aus dem Elfenbeinturm. Die erfahrenen Praktiker hatten bei den Reformen keine Stimme. Ich habe auch einmal ein Lehrerdiplom gemacht: Wir lernten das Unterrichten dank erfahrenen Lehrern, die alles erlebt haben, auch schlimme Klassen. Die Theorie war auch nett, durchaus interessant, aber oft wenig hilfreich für die pädagogische Praxis.

Befürworter der heutigen, sagen wir progressiven Schule, entgegnen: Warum dieser Aufstand? Mädchen und Frauen haben lange genug gelitten – aber nur wegen der armen Buben empört man sich?

Es geht nicht um arme Buben, sondern einen Unterricht, der beiden Geschlechtern gerecht wird. Dass es zu einem Backlash kommt, verwundert mich nicht, wenn man sieht, wie heute übertrieben wird – und Buben effektiv benachteiligt werden.

Wie kommen die Schulen wieder zurück in die Spur?

Schulen kann man als wohlwollende Unterwerfungsinstitution verstehen. Es ist kulturell notwendig, dass sich Schüler unseren Normen und Werten anpassen. Das gilt auch bei Herausforderungen mit Migranten aus anderen Kulturen. Schulen sind keine Selbstverwirklichungsarenen. In diesem Sinne braucht es die Autorität des Lehrers, die Anpassung einfordert, auf eine persönliche, gutmütige Art. Dies ist vor allem bei Kindern aus patriarchalen Kulturen wichtig.

Machos wie Donald Trump oder Andrew Tate sind längst wieder in.

Zu wenig gelebte Männlichkeit führt zu extremen Formen des Machismo. In den Schulen versagen wir, weil wir es nicht hinbekommen, eine zivilisierte Form von Männlichkeit zu leben, die unseren Werten entspricht. Es ist jedoch problematisch, wenn Männlichkeit per se als toxisch beschrieben wird. Wir wissen dank Untersuchungen, dass heute schon kleine Buben in den Schulen das Gefühl haben, dass sie benachteiligt würden. Und dann irgendwann selbst glauben, dass sie toxisch seien.

Was macht die Bevorteilung eigentlich mit den Mädchen?

Das ist eine wichtige Frage. Mädchen wünschen sich eigentlich dasselbe wie Buben. Sie vermissen den Typen, der sein kann, wie er ist. Deshalb finden sie den Macho attraktiver denn je. Kann das das Ziel sein?

Müsste man deswegen zurück zum geschlechtergetrennten Unterricht? Mädchenschulen erfreuen sich grosser Beliebtheit, obschon sie staatlich unter Druck geraten.

Ich bin ein Verfechter verschiedener Schulformen. Es braucht für mich nicht zwingend geschlechtergetrennte Schulen, aber Teile des Unterrichts getrennt zu absolvieren, halte ich durchaus für sinnvoll.

Was bedeutet denn der Status quo, dass immer mehr junge Frauen die Matur machen, in vielen Studiengängen die Mehrheit stellen – oder zumindest stark aufholen?

Es ist für die Gesellschaft nicht gut, wenn wichtige Berufe fast ausschliesslich von einem Geschlecht ausgeübt werden. Durchmischung ist wichtig, da Männer in Berufen oft andere Ziele verfolgen, mehr wagen und hinterfragen. Die männliche Neigung zu Disruption droht bei Psychologen, Ärzten und bei Lehrern zu fehlen. Es gibt eine eigenartige Entwicklung: Das Ziel ist es ja, dass alle Berufe allen offenstehen, aber nun erleben wir eine Separierung. So züchten wir eine Zweiklassengesellschaft heran.

Aber wer ein Handwerk erlernt, verdient heute bisweilen mehr als ein Akademiker.

Das stimmt. Dennoch ist es nicht gut, wenn zumindest im tertiären Bildungsbereich eine Separierung entsteht. Es braucht in allen Lebensbereichen männliche und weibliche Fähigkeiten und Eigenschaften.

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