80 Jahre Vereinte Nationen: Wenn Regeln zu Ruinen werden

Die UN feiern ihren 80. Geburtstag. Ihre Errungenschaften sind beachtlich, doch ihre Zukunft ungewiss. Können die Vereinten Nationen noch relevant bleiben?

Unter dem pointierten Motto “Zu alt für die neue Zeit?” präsentiert die Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen einen historischen Ein- und Ausblick, aus Anlass des heutigen 80. Geburtstags der Vereinten Nationen.

Neben zahlreichen Friedensmissionen, dutzenden völkerrechtlichen Normen und umfassender humanitärer Hilfe blickt die supranationale Organisation jedoch in eine ungewisse Zukunft.

Die US-Austritte aus internationalen Abkommen sowie aktuelle Grenzverschiebungen lassen das Völkerrecht zunehmend erodieren. Ein exemplarisches Beispiel dafür ist der politische Kuhhandel zwischen der marokkanischen Anerkennung Israels und der gleichzeitigen westlichen Tatenlosigkeit gegenüber Marokkos Herrschaftsanspruch über die Westsahara.

Sind die Vereinten Nationen am Ende?

Erweiterter Friedensbegriff

Es gibt sie noch: die kleinen Siege der UN. Am Mittwochnachmittag wurde vermeldet, dass der Internationale Gerichtshof in Den Haag in einem rechtlich nicht bindenden Gutachten festgestellt hat, dass Israel die palästinensischen Zivilisten im Gazastreifen versorgen muss. Bisher wies der israelische Staat jegliche Verantwortung für die aus einem Krieg resultierenden Schäden kategorisch von sich.

Dabei wäre ein langfristiger Frieden, insbesondere im Nahen Osten, der Ansatz, der den festgefahren-blutigen Nahostkonflikt wirklich lösen könnte.

Mit der Gründung der Vereinten Nationen am 24. Oktober 1945 trat zugleich die UN-Charta mit den Kernzwecken Wahrung des Weltfriedens, Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen, Förderung sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung sowie Achtung der Menschenrechte, in Kraft.

Jene Charta stellt neben einem völkerrechtlichen Handlungsrahmen auch die Arbeitsgrundlage für die diversen UN-Organisationen dar.

Während neue Dimensionen im Sicherheitsbegriff Einzug erhalten haben, kontern die Vereinten Nationen mit einem “erweiterten Friedensbegriff“. In einer Melange aus regelbasierter, rechtlich normierter Ordnung sollen Menschenrechte gewahrt und nachhaltige Entwicklung ermöglicht werden.

Vereinte Leistungen

Durch UN-Friedensmissionen konnte international anerkanntes Recht materialisiert werden. Die Blauhelme agierten dabei gewissermaßen als soldatische Feuerwehr in schwerer See. Mit der UN-Resolution 1514 von 1960 begannen die Friedensmissionen einen historischen Ausweg aus neokolonialer Abhängigkeit zu schaffen.

2023 waren jene Kräfte noch in 36 Ländern aktiv und stellten 203 Millionen US-Dollar für Friedens- und Wiederaufbauarbeit zur Verfügung. Aktuell sind noch elf Missionen, primär in Afrika, anhängig.

Neben erfolgreichen Mandaten (Namibia, Liberia oder Timor-Leste) stechen negative Beispiele heraus. So musste die Monusco-Mission im Ostkongo 2023 – wegen anhaltendem Misserfolg – vorzeitig beendet werden.

Entscheidender als die reale Durchsetzung friedensstiftender Maßnahmen dürfte – zumindest in einer weiten historischen Perspektive – die Prägung internationaler Rechtsnormen sein. Neben der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 setzten die Vereinten Nationen einen umfassenden Menschenrechtsrahmen und versuchten, internationale Detailkonventionen in rechtssichere Bahnen zu gießen.

Neben den internationalen Seerechten von 1982 (Unclos) und den Antikorruptionsabkommen unter der Ägide der Un (von 2003) stechen vor allem die jährlichen “Treaty Events“, also Vertragsratifizierungen in diversen Bereichen, heraus.

Struktureller Hemmschuh

Gemäß Kapitel V der Charta genießt der UN-Sicherheitsrat als besonderes Werkzeug einen unüberschätzbaren Stellenwert. Er darf Entscheidungen treffen, die alle UN-Mitgliedstaaten umsetzen müssen – ein Alleinstellungsmerkmal im UN-System.

Allein seine Existenz ist, unter der Prämisse archaischer internationaler Ordnungen und potenziell massenvernichtender Konflikte, ein Zivilisationsfortschritt.

Doch der Teufel steckt im Detail: Neben den fünf ständigen Mitgliedern (USA, Großbritannien, Russland, Frankreich und China) treten zudem zehn nichtständige Staaten hinzu, er ist eine klassische Geburt der Wehen der Systemkonkurrenz. Problematisch ist, dass alle der P5-Mitglieder via Veto jegliche Entscheidungen blockieren können.

Zwar werden bis heute Missionen beschlossen – wie das aktuelle Exempel der Autorisierung der angeblichen Gang-Bekämpfung auf Haiti belegt – doch verbrauchen sich die Veto-Rechte im Rahmen der Großkonflikte und entlang geopolitisch sich zunehmend entfaltender Blockkonstellationen.

Im Syrien-Krieg nutzen Russland und China – nach den Erfahrungen mit Libyen und dem Sturz Gaddafis – ihre Vetomacht 17 Mal. Im Hinblick auf Israel sperren die USA seit Jahren jegliche Konsequenzen für ihren Territorialstatthalter. Dies nimmt den Vereinten Nationen Stärke, lähmt Opportunitätsfenster und verkratzt ihre Legitimation in abhängigeren Staaten.

Abhängigkeit und Erosion

Als supranationale Organisation, vergleichbar mit der Europäischen Union, sind sie auf stetige Beitragszahlungen ihrer Mitgliedsorganisationen angewiesen. Dabei bieten Kürzungen oder Zahlungsstopps (US-Ausstieg aus WHO, UNHCR, Unesco), Einflussfaktoren und reduzieren die Einsatzfähigkeit wie das Personalaufkommen. Antonio Guterres, seit 2017 UN-Generalsekretär, warnt seit Jahren vor massiver-werdenden Liquiditätsproblemen.

Dabei spiegeln die Finanzprobleme die Problematik auf der Erscheinungsebene wider: es lässt sich eine Erosion des internationalen Rechts konstatieren. Augenfällig ist, dass es sich weniger um eine bewusst formale, offen kommunizierte Revision bestehender Normen handelt als um eine schrittweise, faktische Aushöhlung multilateraler Regeln.

Dem Pentagon dürfte bewusst gewesen sein, dass ein unprovozierter und nicht präventiver Erstschlag gegen den Iran gegen das Völkerrecht verstößt. Neben dem formalen Austritt der USA aus dem Pariser Klimaabkommen verfehlen dutzende weitere Staaten ihre schriftlich fixierten Klimaziele und in kaum einem Land wurden die deutlich verschärften WHO-Pandemieregelungen bis heute in Gesetzesform gegossen.

Ende einer Ära?

Im aktuellen Konkurrenzkapitalismus bildet sich – abseits einer unipolaren Ordnung – eine Großmachtrivalität heraus. Geopolitisch verlaufende Blockgrenzen dienen als Grundlage für Absprachen, Normen und Konventionen.

Zoll- und Handelskriege, militärische Stellvertreterkonfrontationen und eine militärische Zeitenwende machen internationale Übereinkünfte über Blockgrenzen hinweg zunehmend unrealistisch.

Insbesondere die außenpolitische Geltungsmacht wird anhand ökonomischer und innenpolitischer Potenziale ausgerichtet – ein nationalistisches Amalgam, welches den ideologischen Gründungskonsens von 1945 konterkariert.

Zudem ist die Verfassung der Vereinten Nationen dringend reformbedürftig: neben dem Veto-Recht müssen Finanzen transparent internationalisiert werden. Zudem solten neue Kooperationen mit aufsteigenden Akteuren (wie Asean, Brics, Sco) gesucht werden.

Zwar sind die Vereinten Nationen nicht “tot”, doch in ihrer operativen Wirkungsmacht und zunehmend auch in ihrer juristischen Normierung eingeschränkt. Setzt sich der aktuelle Trend der folgenlosen Erosion des Völkerrechtes fort, droht eine “Zeit der Monster” (Gramsci).

Ob die immateriellen Ideale gegenüber den materiellen Motiven der Großmächte bestehen können, muss aktuell bezweifelt werden.

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