Noch heute gibt es einen Ort in Saarbrücken, an dem man erahnen kann, dass die Geschichte des Saarlandes auch ganz anders hätte verlaufen können. Es ist die französische Botschaft, die Anfang der Fünfzigerjahre in Alt-Saarbrücken erbaut wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte das kleine Land einen teilautonomen Status. Welchen Wert die französische Regierung dem beigemessen haben muss, zeigt schon der opulente Eingangsbereich mit Fensterfronten und repräsentativen Treppen. An die Räume des Botschafters schließt sich ein Verwaltungsgebäude mit Hunderten Büros an.
Geplant wurde die Botschaft vom gefeierten Architekten Georges-Henri Pingusson, der Wert auf klare geometrische Formen setzte. Das 1954 zwischen Bonn und Paris ausgehandelte Saarstatut sah vor, dass das Saarland wirtschaftlich eng an Frankreich gebunden, aber zugleich eine europäisch-autonome Region sein sollte. Noch heute erzählt man in Saarbrücken, dass die Stadt in diesem Fall womöglich Sitz europäischer Institutionen wie des Gerichts- oder Rechnungshofs hätte werden können (beides ging nach Luxemburg) oder gar des Europäischen Parlaments (Brüssel und Straßburg). In diesem Fall wäre die Botschaft nicht überdimensioniert gewesen.
War die Frage zu komplex für ein Plebiszit?
Der 23. Oktober 1955 war der entscheidende Tag auf dem Weg dahin, dass das Saarland stattdessen zum elften westdeutschen Bundesland wurde. Auf Initiative der Franzosen hielten die Saarländer eine Abstimmung über das Saarstatut ab. Bundeskanzler Konrad Adenauer soll früh bemängelt haben, dass die völkerrechtliche Einigung zu komplex für eine solche Abstimmung sei.
Im Wahlkampf bestätigten sich solche Bedenken. Die Saarländer führten einen erbitterten Streit darüber, ob sie zu Deutschland gehören wollen. Demonstrationen wurden mit Wasserwerfern beendet. Auf Wahlplakaten spielte man mit nationalistischen Klischees: Unter der Überschrift „Mutter!“ entriss eine Frau im schwarzen Kleid und auf hochhackigen Schuhen, die französische Marianne verkörpernd, ein schreiendes Kind (auf dem Kleid steht „Saar“) seiner entsetzten Mutter („Deutschland“). „Helft! Stimmt mit Nein“, forderte die DPS, eine saarländische Vorgängerpartei des dortigen FDP-Landesverbandes.
Nach dem Ersten Weltkrieg gab es schon mal eine Abstimmung
Zwanzig Jahre zuvor hatte man im Saargebiet, das nach dem Ersten Weltkrieg vom Völkerbund verwaltet wurde, schon einmal abstimmen müssen, wem man angehören will. 90 Prozent stimmten für das Deutsche Reich. 1955 kämpfte auch die junge saarländische CDU für ein Nein zum Statut, während der christdemokratische Bundeskanzler Konrad Adenauer eine „herzliche Bitte“ an die Saarländer richtete, für die Einigung zu stimmen.
Adenauer wollte vor allem die Aussöhnung mit Frankreich. Das Saarstatut war Gegenstand eines Handels gewesen: Die Bundesregierung stimmte dem völkerrechtlich autonomen Status des Landes zu, den das Saarstatut festlegte, und die Siegermacht Frankreich ließ im Gegenzug die völkerrechtliche Unabhängigkeit der Bundesrepublik zu.
Letztlich stimmten 60 Prozent der Saarländer mit Nein. Entscheidend war wohl die Zuspitzung, ob man sich für oder gegen Deutschland entscheidet. Die Alternative stand für das Ungewisse. Was eine europäisch-autonome Region bedeuten könnte, dafür gab es keine Vorbilder. Erst viele Jahre später sollte die Entwicklung des Großherzogtums Luxemburg aufzeigen, wie erfolgreich dieser Weg sein kann.
Paris wurde als bevormundend empfunden
Wenige Jahre vor der Entscheidung war Saarbrücken damit gescheitert, Sitz der Montanunion zu werden. Frankreich, mit dem das Saarland wirtschaftlich und letztlich auch politisch eng verbunden gewesen wäre, befand sich in einer wirtschaftlichen Schieflage. Saarländer kämpften im unpopulären Algerienkrieg gegen die dortige Unabhängigkeitsbewegung. Die französische Regierung wurde zunehmend als bevormundend empfunden. Die Bundesrepublik erlebte hingegen ein Wirtschaftswunder und galt womöglich als die sichere Wahl.
Auch wenn sich die Entscheidung in den Tagen vor der Volksabstimmung abzeichnete – es gab eine Umfrage, die ein Nein zum Saarstatut prognostizierte –, reagierten die deutsche und die französische Regierung überrascht. Es folgten jahrelange, zähe Verhandlungen über die Zukunft des Saarlandes. Erst 1959 wurde es das jüngste westdeutsche Bundesland.
Die Folgen des späten Beitritts werden noch heute von Landespolitikern angeführt, wenn es um die wirtschaftliche Schwäche geht. Das Saarland bekam keinen Hauptsitz einer Bundesbehörde ab – die waren bereits verteilt. Mit der randständigen Lage hadert man ebenso bis heute, was sich durch den Umzug der Regierung von Bonn nach Berlin verstärkte. Von keiner Landeshauptstadt ist der Weg in die Bundeshauptstadt so weit wie aus Saarbrücken.
Man fährt immer noch „ins Reich“
Wenn das Land heute seine Stärken präsentiert, etwa beim Ringen um Unternehmensansiedlungen, wird stets die Lage im „Herzen Europas“ betont und damit die Nähe zu Frankreich. Dass man in nur zwei Stunden in Paris ist, erwähnt fast jeder Saarländer. Auch die französische Lebensart, die sich in der exzellenten Küche des Saarlandes ausdrückt, bleibt nie unerwähnt. Noch heute sagen Saarländer meist ironisch, sie fahren „ins Reich“, wenn sie Ziele im Rest Deutschlands ansteuern.
Die französische Botschaft, die ihren Nutzen als diplomatische Vertretung verlor, wurde nach 1959 an das Saarland übergeben. Über Jahrzehnte war sie Sitz des Bildungsministeriums, bis das Gebäude so baufällig wurde, dass die Beamten umziehen mussten. Seit mehr als zehn Jahren steht die Botschaft leer. Die Kosten für eine Sanierung sind so horrende, dass sogar der Abriss des denkmalgeschützten Gebäudes im Raum stand. Inzwischen ist klar, dass saniert wird. Nur wann das abgeschlossen sein könnte, ist offen.
