Beim Ganztag in Grundschulen hapert es noch: Bloße Verwahrung oder wertvolle Bildung?
Der ab 2026 geltende Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung stellt auch die Kasseler Grundschulen vor Hürden.
Ab 2026 greift der Rechtsanspruch für Grundschüler auf eine für die Eltern kostenfreie achtstündige Betreuung. Zwar gilt dieser Anspruch im kommenden Schuljahr zunächst nur für die Erstklässler und wird erst in den Folgejahren um je eine Klassenstufe erweitert, tatsächlich bieten aber schon jetzt bereits 23 von 27 Kasseler Grundschulen eine Ganztagsbetreuung bis 14.30 Uhr an. Dabei stoßen die Schulen aber immer wieder auf personelle und räumliche Probleme. Mit dem Rechtsanspruch auf einen kostenfreien Platz bis 14.30 Uhr könnten diese sich verschärfen. Zudem gibt es unter anderem von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Nordhessen (GEW) Kritik daran, dass der „Pakt für den Ganztag“ auch den Einsatz von Hilfskräften zulässt, worunter die pädagogische Qualität leide.
In Kassel hat der Ausbau zu Ganztagsgrundschulen bereits 2012 begonnen. Parallel dazu gab es aber schon länger an etlichen Grundschulstandorten Hortangebote, die sich auch durch Elternbeiträge finanzieren, aber nur für einen Teil der Schülerinnen und Schüler Plätze anbieten können. Künftig sollen alle Schüler bis 14.30 Uhr im „Pakt für den Ganztag“ kostenfrei betreut werden – lediglich die Kosten für das Mittagessen sind zu tragen. Nur wer darüber hinaus und in den Ferienzeiten Bedarf hat, ist auf die kostenpflichtigen Hortplätze angewiesen.
Für viele Eltern ergeben sich aus dem Rechtsanspruch zunächst Vorteile. Sie haben dank der Landesförderung und ergänzenden städtischen Mitteln eine verlässliche Betreuung bis 14.30 Uhr. Bei der Umsetzung hakt es aber noch an mehreren Stellen, wie Anna Ufer von der GEW Nordhessen erläutert. „Mit den vorhandenen Stellen und der räumlichen Ausstattung wird es schwierig, den Pakt für den Ganztag zu stemmen. Unter diesen Voraussetzungen ist eine verlässliche Betreuung für die Kinder bis 14.30 Uhr zwar möglich – und dies ist für berufstätige Eltern eine Entlastung – aber ganz sicher nicht durchgängig mit einer hohen pädagogischen Qualität.“
Es fehle bei der Qualifizierung des Personals an verbindlichen Standards. In der Ganztagsbetreuung würden Mitarbeiter oft in befristeten und prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt. „Das ist für die Betroffenen von Nachteil, aber auch für die Kinder, denen es aufgrund einer sehr hohen Fluktuation an verlässlichen Ansprechpartnern mangelt“, so Ufer. Zudem seien viele Schulen noch nicht so ausgerüstet, dass Kinder sich dort auch nachmittags wohlfühlten.
Während sich die Stadt gut aufgestellt sieht, weil der Ausbau zu Ganztagsgrundschulen seit 2012 laufe, äußert auch der Dachverband der freien Kindertagesstätten (Dakits) Bedenken in Bezug auf die Situation der etablierten Horte.
Vier Schulen bislang noch ohne Ganztag
In der Dorothea-Viehmann-Schule, der Grundschule Am Warteberg, der Grundschule Wolfsanger-Hasenhecke und der Herkulesschule muss bis nächstes Jahr noch ein entsprechendes Angebot aufgebaut werden. Die erforderlichen Umbau- und Ertüchtigungsmaßnahmen sollen je nach den individuellen örtlichen Gegebenheiten bis zum Start des Schuljahrs 2026/2027 realisiert werden, heißt es von der Stadt Kassel. Dabei gehe es etwa um den Lärmschutz und die Einrichtung von Speisesälen.
Fragen & Antworten zur Ganztagsbetreuung
Die Stadt Kassel ist bei der Umsetzung der Ganztagsbetreuung an Grundschulen schon ein ganzes Stück vorangekommen. So haben 23 von 27 Grundschulen bereits ein Ganztagsprofil. Bis ab kommenden Schuljahr der Rechtsanspruch auf die kostenfreie Betreuung bis 14.30 Uhr greift, liegt dennoch einiges an Arbeit vor den Schulen und der Stadtverwaltung. Vor allem wird es darum gehen, ausreichend Personal und adäquate Räume bereitzustellen, um eine Betreuung zu gewährleisten, die mehr als eine „Verwahrung“ der Grundschüler ist. Wir beantworten die wichtigsten Fragen zum Thema.
Was steckt hinter dem „Pakt für den Ganztag“?
Der „Pakt für den Ganztag“ ist die hessische Strategie, um den Rechtsanspruch für Grundschulkinder umzusetzen. Das Land stellt Stellen für Lehrkräfte und Geld für weiteres Ganztagspersonal zur Verfügung, um ein für die Eltern kostenloses Bildungs- und Betreuungsangebot bis 14.30 Uhr zu ermöglichen. Die Gesamtverantwortung für das Angebot trägt die jeweilige Schulleitung. Die Höhe der Landeszuwendung bemisst sich an der Zahl der angemeldeten Kinder im Ganztag, unabhängig davon, ob sie zusätzlich im Hort angemeldet sind oder nicht. Ergänzende Mittel kommen aus der Stadtkasse. Eine Teilnahme der Grundschüler an den Angeboten nach Schulschluss erfolgt nach Anmeldung und ist freiwillig.
Das klingt doch erstmal nach einer Verbesserung?
Auf die Vorteile weist auch Antje Proetel vom Dachverband der freien Kindertagesstätten (Dakits) hin, der auch für die Horte zuständig ist: „Der Pakt für den Ganztag ist eine Vorgabe des Landes. Die Stadt hat alle Beteiligte in diesen Prozess einbezogen. Letztlich geht es darum, Kinder nicht zu benachteiligen, die bislang keinen Hortplatz erhalten haben.“ Dennoch sieht Proetel auch Nachteile: „Ein klassischer Hort bietet eine andere Form der Betreuung, einen behüteten Rahmen. Etwas Vergleichbares ist bei der Gemeinschaftsbetreuung im Pakt für den Ganztag deutlich schwieriger realisierbar.“
Woher kommt das Personal für die Ganztagsbetreuung, wo es doch schon bislang an vielen Schulen daran mangelt?
Die Stadt spricht von „multiprofessionellen Teams“. In der Regel bestünden diese aus Mitarbeitenden mit pädagogischer Qualifikation und Personal mit „angebotsspezifischer Sachkunde“ – etwa bei musischen Angeboten oder Sportangeboten, heißt es von der Stadt Kassel. Anders als bei den Horten – die dem Fachkraftgebot unterliegen – ist im Ganztag auch nicht-pädagogisches Personal tätig. Wobei die Stadt darauf hinweist, dass auch die pädagogischen Fachkräfte der Horte neben den Lehrkräften in der Zeit von 11.30 bis 14.30 Uhr im Ganztag mitarbeiten.
Dennoch gibt es Zweifel an der Qualität der kostenfreien Ganztagsbetreuung?
„Ich sehe große Herausforderungen beim Personal- und Raumangebot in einigen Schulen. An beiden fehlt es, um eine qualitative und verlässliche Betreuung für alle Kinder sicherzustellen“, sagt Proetel von Dakits. Es habe im Vorfeld des „Pakts für den Ganztag“ in etlichen Horten Bedenken und inhaltliche Fragezeichen gegeben. „Mancher stellte sich die Frage, wie soll eine Betreuung bei so vielen Kindern gelingen? Wie funktioniert der Beziehungsaufbau gerade bei jüngeren und eingeschränkten Kindern?“, so Proetel. Zudem sicherten die Horte bislang eine Vielfalt von pädagogischen Konzepten – vor allem in der Organisationsform einer Elterninitiative. Perspektivisch werde dies wahrscheinlich deutlich abnehmen. „Das finde ich bedauerlich. Gerade auch außerschulische Horte, die es künftig nicht mehr geben soll, waren für viele Eltern und Kinder ein attraktives Angebot – gerade wegen der räumlichen Trennung zur Schule.“
Was ist mit Eltern, die einen Betreuungsbedarf über 14.30 Uhr hinaus haben?
Für die Betreuungszeit von 14.30 bis 17 Uhr sind weiterhin – wie schon bislang an vielen Standorten – die Horte zuständig. Nur angemeldete Hortkinder werden auch künftig eine Ferienbetreuung erhalten.
Ist nicht zu befürchten, dass die angebotenen und kostenpflichtigen Hortbetreuungen bis 15 Uhr beziehungsweise bis 17 Uhr an Attraktivität verlieren, wenn bis 14.30 Uhr ohnehin alle Kinder kostenfrei gemeinsam betreut werden?
Die Stadt geht von keinen großen Veränderungen für die Horte aus. „Die Erfahrung an den ganztägig arbeitenden Grundschulen zeigt, dass die Eltern für ihre Kinder das Ganztagsmodul wählen, das für die jeweilige familiäre Situation bedarfsgerecht ist. Eltern, die eine Betreuung bis 17 Uhr und/oder eine verbindliche Ferienbetreuung benötigen, wählen entsprechend weiterhin die zusätzlich buchbaren Schulhortmodule“, so eine Stadtsprecherin. Ob die Einführung des Paktes für den Ganztag am jeweiligen Standort zu einem Rückgang der angemeldeten Kinder in den Hortmodulen führe, sei schlecht prognostizierbar. Rückgängige Zahlen seien allenfalls bei der Betreuung bis 15 Uhr zu erwarten. Eine Überarbeitung der Kostenbeiträge solle im Zuge der anstehenden Änderung der entsprechenden Satzung erfolgen. Ein Ganztagesplatz (bis 17 Uhr) kostet bislang 155 Euro monatlich. Hinzu kommt die Mittagsverpflegung (ab November 85 Euro).
In welchen Räumen findet die Ganztagsbetreuung statt?
Neben den Räumen der Horte werden auch Schulräume genutzt. Dafür werden letztere entsprechend mit Mobiliar ausgestattet. Die Stadt präferiert auch aus Nachhaltigkeitsaspekten eine multifunktionale Raumnutzung.
Was fordern die Kritiker?
Damit der Ganztag pädagogischen Ansprüchen genügt, sieht Anna Ufer von der GEW Nordhessen noch Nachbesserungsbedarf: „Es braucht mehr Geld, um ein Bildungssystem auf die Beine zu stellen, das nicht immer bei allen Vergleichsuntersuchungen schlecht abschneidet. Es braucht mehr Stellen und vor allem Investitionen in die Attraktivität der Berufsfelder in Kita, Hort und Schule.“
