Brief an den Bundeskanzler: “Ich bin eine Tochter – und das möchte ich Ihnen sagen”

Die Aussagen von Bundeskanzler Friedrich Merz über migrantisch gelesene Menschen als “Problem im Stadtbild” schlagen Wellen. Auch in unserer Redaktion. Eine der von ihm bemühten Töchter zur Untermauerung seiner Aussagen hat ihm einen Brief geschrieben.

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,

ich habe zwar keine Tochter, aber ich bin eine. Und hatte schon Angst vor Männern in den vermeintlich guten alten Zeiten, die Sie mit Ihrer Politik offenbar heraufbeschwören möchten. Als Teenagerin ging ich zum Beispiel mal am helllichten Tag über den Stuttgarter Schlossplatz. Ein mittelalter Mann kam mir entgegen und raunte in mein Ohr: “Willst du mit mir schlafen?” 

Auch 45 Jahre später erinnere ich mich noch glasklar an die Situation, weil sie meinen Glauben erschütterte. Meinen Glauben daran, dass Männer im Wesentlichen Menschen sind, bei denen man Schutz findet. Dieser sah aus wie die meisten in meiner schwäbischen Achtzigerjahre-Jugend: nichtssagend, bieder. Sie wissen schon. 

Auch heute habe ich manchmal Angst vor Männern – besonders nachts auf der Straße. Nicht vor migrantischen Männern, sondern vor Männern im Allgemeinen. Aber auch tagsüber machen mir Männer Angst, zum Beispiel Männer wie Sie. Vergangene Woche sagten Sie in Brandenburg, in Sachen Migration habe die Regierung “viel erreicht”, die Asylanträge seien um 60 Prozent zurückgegangen. Und fügten hinzu: “Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen.” Ein Bundeskanzler, der Ressentiments gegen eingewanderte Menschen schürt, ist eine Gefahr. Er bereitet den Boden für rassistische Übergriffe und gefährdet die Demokratie: Die Rechtsextremisten leben von der Spaltung unserer Gesellschaft in “Migranten” als Täter und “Deutsche” als Opfer. 

Diese rassistische, ausgrenzende, verletzende Aussage gegenüber Migrant:innen aus dem Mund eines Bundeskanzlers hat mich wütend gemacht – als wären diese Menschen etwas Hässliches, das entfernt werden müsse, wie Mitesser oder Pickel in einem ansonsten makellosen Hautbild. Mit Ihrer Sorge um das “Stadtbild” nehmen Sie in Kauf, die rund 30 Prozent der in Deutschland lebenden migrantischen Menschen zu diskreditieren, statt zu erklären, was unser “Stadtbild” wirklich prägt – Armut etwa, und Kommunen, denen das Geld für Sanierungen fehlt. 

Sie haben sich nicht entschuldigt, wie einige es von Ihnen erwartet haben, Sie legten sogar nach. “Ich habe gar nichts zurückzunehmen – im Gegenteil”, sagten Sie gestern. “Fragen Sie Ihre Kinder, fragen Sie Ihre Töchter, fragen Sie im Freundes- und Bekanntenkreis herum: Alle bestätigen, dass das ein Problem ist – spätestens mit Einbruch der Dunkelheit.” 

Sie fühlen sich vielleicht väterlich, wenn Sie sich als Beschützer von Frauen und Mädchen inszenieren, aber das sind Sie nicht. Vielmehr wiederholen Sie mit Ihrem Rekurs auf Schwarze Männer, die im Dunkeln “unsere Töchter” bedrohen, Aussagen aus der Kolonialzeit. Der gefährlichste Ort für Frauen bleibt im Übrigen ihr eigenes Zuhause; ein Großteil der Vergewaltigungen und Femizide wird von (Ex-)-Partnern begangen.

Als Tochter möchte ich Sie bitten: Lassen Sie uns aus dem Spiel. Missbrauchen Sie mich und andere Frauen nicht dafür, Ihre menschenfeindlichen Äußerungen zu untermauern und als Fürsorge zu tarnen. 

Und noch etwas: Wenn Sie wirklich etwas am “Stadtbild” für Frauen ändern wollen, sorgen Sie bitte endlich dafür, dass Städte für Frauen gefahrloser zu navigieren sind. Schlecht beleuchtete Straßen, lange, verwinkelte Unterführungen, hohe Hecken und Raser am Steuer bedrohen unser Sicherheitsgefühl enorm.

Mit freundlichen Grüßen, 

Susanne Arndt

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