Christoph Waltz über „Frankenstein“ und die Monster der Gegenwart

Herr Waltz, wie hat Regisseur Guillermo del Toro es angestellt, gleich zweimal hintereinander mit Ihnen arbeiten zu können?

Er hat mich relativ früh gefragt, noch als wir „Pinocchio“ drehten, weil die Figur des Mäzens Harlander im „Frankenstein“-Roman von Mary Shelley nicht vorkommt. Das ist eigentlich der schönere Vorgang: Wenn es nicht über casting agent und market value geht, sondern jemand sagt, für diese Rolle könnte der, den ich kenne, der Richtige sein. Gerade mit barock-sozialen Persönlichkeiten wie Guillermo ist so ein direkter Austausch hilfreich für die Entstehung einer Figur.

Wussten Sie da schon, dass „Frankenstein“ sein Herzensprojekt ist?

Das verhehlt er nicht – warum auch? Ansonsten war die Tatsache nicht weiter von Interesse für mich, wie sehr er an der Sache hängt und aus welchem Grund. Persönlich alleweil, aber professionell nicht sehr, weil er der Autor des Drehbuchs ist, an das ich mich halte. Selbst die Diskrepanz zum Roman darf keine Rolle spielen. Die Arbeit selbst ergibt sich nur aus den sogenannten Anweisungen. Das ist zwar ein Wort, das ich gar nicht mag . . .

Warum nicht?

Ich bin doch kein Dienstleister oder Befehlsempfänger. Wenn jemand sagt „He delivered his line“, entgegne ich „No. Delivery is Amazon“.

Aber Sie stellen Ihr Können in den Dienst der Sache?

Das ist wiederum so eine sehr urdeutsche Formulierung, die ich gelten lasse. Das ist nicht verkehrt!

Del Toro spielt ebenfalls mit Begrifflichkeiten und suggeriert, wie menschlich das Monster und wie monströs die Menschen sind. Wo steht Ihre Figur in diesem Spektrum?

Ich vermeide den Begriff Monster, speziell hier. Denn das ist eine sehr enge persönliche Perspektive, jemanden ein Monster zu nennen. Ich bevorzuge den Ausdruck Kreatur, weil er de facto ­kreiert ist. Ein religiöser Mensch würde widersprechen: Er ist nicht kreiert, er ist nur neu zusammengestellt, denn Kreation im Sinne von Schöpfung ist schon erledigt, und das sogar in sechs Tagen. Dieses neue Arrangieren, das sich der Schöpfung bedient, um etwas Ungesehenes zu erschaffen – das ist ein Gedanke, der mir jedes Mal durch den Kopf zischt, wenn ich höre, dass sich eine Person oder Branche als kreativ ­bezeichnet. Im Grunde genommen ist die ­Figur, die Jacob Elordi verkörpert, eine Neuzusammenstellung. Eine Rekreation.

Wie aktuell ist Mary Shelleys Roman „Frankenstein“, der am ersten Tag des Jahres 1818 anonym erschien und die grundlegende Frage stellt, was es heißt, menschlich zu sein?

„Frankenstein“ ist sehr aktuell. Ich ­bedaure es, dass Mary Shelleys Roman nicht zu unserem literarischen Kanon gehört. Deswegen haben wir keine ­identifikatorische Verbindung mit dem Werk – wir übernehmen sie nur aus der englischsprachigen Peripherie. Das ist ein echtes Versäumnis, weil ich es nicht nur für ein Ereignis, sondern für einen bedeutenden Wendepunkt halte, dass eine junge Frau im Jahr 1816, mit 18 oder 19 Jahren, begonnen hat, diesen Roman zu schreiben. Das ist ­unfassbar.

Die saudische Regisseurin Haifaa al-Mansour hat ihr 2017 mit „Mary Shelley“ ein beeindruckendes filmisches Denkmal gesetzt.

Wenn man schaut, wer die Eltern waren, woher ihre Geisteshaltung kam und wie die sich in einem so jungen Menschen gebildet haben kann, wird uns einiges über die Aufklärung ins Bewusstsein gerufen. Und im Zuge dessen sehr viel über die Katastrophe, in der wir uns momentan befinden. Denn wir fallen mutwillig und ohne Not hinter die Ära der Aufklärung zurück.

Sind Sie froh, dass Sie noch analog aufgewachsen sind . . .?

Ja!

. . . und auch beruflich die größte Strecke ohne Digitalbegleitung absolvieren konnten?

Beruflich bin ich froh, dass ich mich langsam auf der anderen Seite des Hügels befinde, weil auch in meinem Beruf die Geschwindigkeit der Digitalisierung zu spüren ist. Ich meine jetzt nicht, dass Schauspieler durch Artificial Intelligence ersetzt werden. Mir wäre das gar nicht unrecht, dann könnte ich die Gage beziehen und bräuchte nicht mehr hinzugehen . . .

Vorausgesetzt, Sie hätten das Copyright auf Ihre Avatare.

Ja, klar. Aber der Modus Operandi wird zunehmend durch Algorithmen definiert, und das finde ich dermaßen irritierend, dass ich manchmal keine Luft kriege.

Erschaffen wir uns gerade die eigenen Monster wie einst der Zauberlehrling?

Die Überlegung läge nahe. Ich glaube aber auch, dass die Digitalisierung als solche keine furchtbareren Monster schafft, als unsere technologischen Möglichkeiten es bislang hätten erreichen können. Sie sind definitiv anderer Natur: unheimlicher, weil sie nicht mehr fassbar sind.

Sie haben auch mit Isolation zu tun – unter der fehlenden Menschlichkeit leidet del Toros Kreatur.

Und wir ergeben uns quasi, wir tun so, als wäre es unausweichlich. Ich bin nicht der Einzige, der das so sieht. Es gibt sehr viel Klügere als mich. Der Philosoph Markus Gabriel etwa. Er hat einen Lehrstuhl in Bonn und arbeitet an einem Konzept des Neuen Realismus – bestechend. Ich lernte ihn zufällig kennen, wir unterhielten uns lange, trotz des Gefälles im Niveau, das ich leider verursachte. Aber ich habe viel davon gehabt und denke seitdem: Vielleicht gibt es ja doch eine konkrete Anlaufstelle, die möglicherweise sogar etwas mit Hoffnung zu tun hat.

Sie sind auch in Luc Bessons Neuverfilmung eines anderen großen Horror-Klassikers zu sehen, „Dracula“. Eine interessante Koinzidenz . . .

Ja, das ist interessant, aber in erster Linie als lustige Zufälligkeit. Es hat keinen thematischen Bezug, noch steht irgendein cleveres Marketingprogramm oder gar ein Algorithmus dahinter. Das hat sich einfach ergeben.

Warum lechzen wir gerade so nach Spuk und Schrecken?

Ich lechze nicht. Aber dieser Durst des Publikums hat sich im Laufe der Zeit etabliert. „Frankenstein“ war wohl der allererste Roman dieser Art. Die Geschichte entstand nur, weil drei Freunde an einem verregneten Sommer im Jahr 1816 am Genfer See eine Wette eingegangen sind, wer die beste Geistergeschichte schreiben könnte. Nachdem ihr Mann Percy Shelley und Lord Byron das Interesse verloren hatten, war Mary Shelley die Einzige, die das durchgezogen hat. Auch da also eine Zufälligkeit.

Aber die Masse an Horror ist keine Zufälligkeit.

Möglicherweise ist es ein ganz banaler Trend. Neue Gedanken haben es sehr schwer, speziell als Basis für einen Film – bewährte Gedanken sind einfach berechenbarer. Und die Existenz eines Films hat sehr viel mit Rechnen zu tun.

Guillermo del Toros Kreatur sehnt sich nach Wahrnehmung, nach Geltung. Ist es das, was Ruhm einem gibt?

Interessanterweise sagt die Kreatur am Ende auch, sie wollte Ruhm. Ich glaube nicht, dass sie auf einem roten Teppich fotografiert werden wollte, aber sie wollte von den wenigen Menschen, an denen ihr liegt, anerkannt und geliebt werden, damit sie die Sicherheit hat, die anderen anzuerkennen und zu lieben. Und so funktionieren Menschen!

Vielleicht können Sie das nachvollziehen: Sie wurden lange nicht so genau wahrgenommen, gerade in Deutschland. Das änderte sich schlagartig mit Tarantino.

Ja, natürlich waren das Veränderungen, drastische sogar. Aber ich halte mir jetzt zugute, dass das nicht zu einer Neuschöpfung geführt hat.

Blieben noch Bande bestehen, zum Beispiel zwischen Tarantino und Ihnen?

Eine Verbindung durchaus – der Austausch ist da, aber weder tief noch regelmäßig. Man kann auch nicht an allem kleben bleiben. Manchmal bleiben Verbindungen auf der Strecke, mal werden sie oberflächlicher, manchmal stellt man nach langer Pause, bei einer Wiederbegegnung fest, dass die Verbindung stärker war, als man es ihr zugetraut hätte.

Seit September sind Sie in der fünften Staffel der Comedy-Krimiserie „Only Murders in the Building“ zu sehen, einer Komödienserie mit Martin Short und Steve Martin. Ist die Arbeit auch für Sie ein Vergnügen?

Ja. Die absolut meisterliche Ausübung des Handwerks dieser beiden Kollegen hat mir größtes Vergnügen bereitet. Der Humor ist nicht unbedingt meiner, es ist nicht mein Tonfall. Aber vor der Qualität, die diese beiden mitbringen, habe ich allergrößten Respekt. Comedy ist nicht Witze machen. Comedy ist nicht lustig sein. In der Entstehung hat Comedy nichts mit Witz zu tun. Die, die lustig sind beim Produzieren der Gags, sind nicht lustig beim Anschauen.

Bei einem PR-Event gab Steve Martin mal eine Visitenkarte mit seiner Unterschrift aus, darauf stand: „This proves that you had a personal encounter with me and that you found me funny, polite and intelligent.“

Und: Er hat recht! Steve Martin wurde gerade 80 Jahre alt. Es gibt viele lustige junge Männer, aber alte haben eine ganz spezielle Farbe des Lustigseins. Das reicht viel weiter. Altersweisheit ist als Material für Comedy unschlagbar.

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