Sie waren die Giganten ihrer Zeit: riesige Wombat-Verwandte namens Diprotodontidae, Kängurus mit kurzen Schnauzen, flugunfähige Vögel und ein urzeitlicher Beutelwolf, größer als jeder Dingo. Bis vor etwa 50.000 Jahren bevölkerte diese Megafauna den australischen Kontinent – ein Tierreich von beeindruckender Vielfalt und Größe. Doch irgendwann verschwanden die Giganten. Lange galt der Mensch als Hauptverdächtiger – als Jäger, der die Tierwelt auslöschte. Eine neue, im Fachmagazin „Royal Society Open Science“ veröffentlichte Studie der University of New South Wales (UNSW) in Sydney stellt diese Theorie nun infrage.
Ein einzelner Knochen – genauer gesagt, ein versteinerter Unterschenkelknochen eines ausgestorbenen Riesenkängurus – spielte dabei eine zentrale Rolle. Seit seiner Entdeckung in der Mammoth Cave im Südwesten Australiens zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt er als zweifelsfreier Beweis im Fall des Megafauna-Aussterbens. Eine markante Einkerbung auf seiner Oberfläche schien zu beweisen, dass Menschen das Tier mit Werkzeugen bearbeitet, also gejagt und zerlegt hatten.
Ursprüngliche Interpretation eines Knochens falsch
Doch was jahrzehntelang als Beweis für die Jagd durch Australiens First Peoples galt, entpuppt sich als Fehlinterpretation. Mit modernen Analysetechniken konnten Paläontologen um Professor Mike Archer von der UNSW zeigen, dass die Einschnittspuren viel später entstanden. Sie untersuchten die Schnittspuren am Knochen mit Hilfe hochauflösender 3D-Scans (Mikro-CT) und neuer Datierungsmethoden. Ergebnis: Der Einschnitt entstand erst, nachdem der Knochen bereits ausgetrocknet war und Schrumpfrisse entwickelt hatte – also zu einem Zeitpunkt, als das Tier längst versteinert war.

„Als Wissenschaftler ist es nicht nur meine Aufgabe, sondern meine Verantwortung, die Aufzeichnungen zu aktualisieren, wenn neue Beweise auftauchen“, sagt Archer in einer Stellungnahme. „1980 interpretierten wir den Einschnitt als Beweis für Schlachtung, weil das die beste Schlussfolgerung war, die wir mit den damals verfügbaren Werkzeugen ziehen konnten.“ Dank technologischer Fortschritte könnten sie jetzt aber sehen, dass diese ursprüngliche Interpretation falsch war.
Auf der Suche nach dem Grund für das Aussterben
Schon vor Jahrzehnten, als die ersten Analysen durchgeführt wurden, tobte eine Debatte: Haben die ersten Menschen Australiens – sie kamen vor rund 65.000 Jahren auf den Kontinent – die urzeitlichen Großtiere überjagt? Oder waren es Umweltveränderungen, die sie auslöschten? Viele Forschende hielten den Mammoth-Cave-Knochen für den entscheidenden Hinweis, dass Menschen für das Verschwinden der Megafauna verantwortlich waren.
„Jahrzehntelang war der Knochen ein ‚rauchender Colt‘ für die Idee, dass Australiens First Peoples Megafauna gejagt haben“, sagt Archer. „Aber da dieser Beweis nun widerlegt ist, ist die Debatte darüber, was das Aussterben dieser riesigen Tiere verursachte, wieder völlig offen – und die Rolle der Menschen unklarer denn je.“
Klimawandel als wahrscheinlicherer Grund
Die Forschenden schließen nicht aus, dass Menschen mit der Megafauna interagierten oder sie gelegentlich jagten. Doch es gibt keine Beweise für eine systematische Ausrottung. „Wenn Menschen wirklich für die nicht nachhaltige Jagd auf Australiens Megafauna verantwortlich waren, würden wir erwarten, viel mehr Beweise für Jagd oder Schlachtung in den Fossilienaufzeichnungen zu finden“, betont Archer.
Stattdessen spricht vieles dafür, dass die riesigen Tiere nicht allein durch menschliche Aktivität verschwanden. Einige Arten starben schon aus, bevor Menschen den Kontinent erreichten, andere existierten noch Tausende Jahre nach deren Ankunft. Oft fällt ihr Verschwinden mit massiven Klimaveränderungen zusammen – etwa langen Dürreperioden und dem Rückgang der Vegetation während des späten Pleistozäns.
Analysen sollen weitere Herleitungen erlauben
Neben dem Känguruknochen analysierten die Wissenschaftler auch einen fossilen Zahn, der in den 1960er Jahren von einem Angehörigen der Worora Nation in der Kimberley-Region einem Archäologen übergeben worden war. Der Zahn gehörte zu einem Zygomaturus trilobus – einem gigantischen Beuteltier, das entfernt mit dem Wombat verwandt war.
Interessanterweise zeigte die chemische Zusammensetzung des Zahns, dass er ursprünglich aus derselben Mammoth Cave im Südwesten stammte. „Die Anwesenheit des Zahns in der Kimberley, weit entfernt von seinem wahrscheinlichen Ursprung, legt nahe, dass er möglicherweise von Menschen über große Entfernungen getragen oder gehandelt wurde“, sagt Kenny Travouillon vom Western Australian Museum, Co-Autor der Studie. Das deutet darauf hin, dass die First Peoples Fossilien nicht als Jagdtrophäen, sondern als wertvolle oder symbolische Objekte betrachteten – vielleicht als spirituelle Artefakte. „Man könnte sagen, dass die First Peoples möglicherweise die ersten Paläontologen des Kontinents – und möglicherweise der Welt – waren“, so Travouillon.
Für Professor Archer und sein Team ist die Arbeit damit nicht abgeschlossen. Sie hoffen, weitere Analysen der Knochen und des Zahntalismans durchführen zu können, um Alter und Herkunft noch präziser zu bestimmen. Auch andere Fundorte wie Cuddie Springs in New South Wales könnten Hinweise liefern. Dort fanden Forschende Spuren, die darauf hindeuten, dass Menschen und Megafauna über mindestens 30.000 Jahre nebeneinander lebten – ohne eindeutige Belege für Jagd oder Schlachtung. Die frühen Australier waren damit vermutlich nicht die Jäger, die das Ende der Riesen besiegelten – sondern neugierige Sammler, die die Spuren dieser gewaltigen Tiere bewahrten.
