Es ist fast ein Wunder, dass man noch eine Rezension zu einer Netflix-Dokumentation über Haftbefehl schreiben kann – und nicht längst schon einen Nachruf über den Offenbacher Deutschrapper veröffentlichen musste. Das wird einem klar, wenn man die 90 Minuten hinter sich gebracht hat, die streckenweise schwer zu ertragen sind, weil sie einen ungefilterten Blick in die Abgründe von Drogensucht, psychischen Problemen und einem nicht aufgearbeiteten Trauma werfen.
Man erwartet das bei einer solchen Dokumentation nicht. Auf den Streamingplattformen haben Filme über Prominente Konjunktur, die sich als Journalismus tarnen, in Wahrheit aber Werbestreifen im Auftrag der Protagonisten sind. Unvergessen, wie sich David Beckham auf Netflix als Familienvater inszenierte, der abends noch stundenlang die Küche putzt, wenn alle schon schlafen – als hätte er auf seinem riesigen Anwesen kein Personal.
Deswegen war man erst mal skeptisch, als die Dokumentation „Babo“, als „seltenes, ungeschöntes Bild eines Mannes, der sich an einem kritischen Scheideweg befindet“, angekündigt wurde. Juan Moreno, der als Aufklärer der Relotius-Affäre beim „Spiegel“ zu Bekanntheit kam und hier Regie führte, sagt, es sei seine einzige Bedingung an den Produzenten Elyas M’Barek und Netflix gewesen, dass die Dokumentation „keine jener glattpolierten, standardisierten PR-Inszenierungen werden dürfe“. Das ist ihm gelungen.

„Du Hurensohn, warum ist nicht dein Vater gestorben?“
Man sollte nicht zu viel über Äußerlichkeiten reden, im Falle Haftbefehls sind sie aber Teil der Geschichte. Und sie werden in der Dokumentation auch als Stilmittel eingesetzt. Gleich zum Einstieg sieht man den Rapper in einem recht aktuellen Interview und dann ein Jahr vorher – in dem später aufgenommenen Interview ist er kaum wiederzuerkennen. Das Gesicht aufgedunsen, die Nase eingefallen, das ganze Profil verschoben. Ein irgendwie fassungsloser Ausdruck prägt sein Gesicht, darüber, was eigentlich mit ihm passiert ist.
Dem geht der Film dann schonungslos auf den Grund. Nach den obligatorischen Lobeshymnen der Szenegrößen auf den tatsächlich großen Einfluss des Rappers auf die deutsche Musik- und Jugendkultur, kommt man recht schnell zum Kern des Problems, leider ab und zu unterlegt mit etwas billig wirkenden Schauspielsequenzen: dem Vater von Haftbefehl, der in der Ghetto-Wohnung in Offenbach in den Neunzigerjahren teilweise bis zu zwei Millionen Mark unter dem Teppich versteckt haben soll, nur um eine Woche später alles verspielt zu haben. Dem Suizidversuch des Vaters, den der kleine Aykut Anhan, wie Haftbefehl heißt, stoppte, um dann von ihm geschlagen und ausgelacht zu werden: „Willst du deinen Vater retten, oder was?“ Dem schließlich vollendeten Suizid des Vaters, nach dem der 14 Jahre alte Aykut so sauer war, dass er einem Nachbarn ins Gesicht schlug: „Du Hurensohn, warum ist nicht dein Vater gestorben?“ Dem Kokain, mit dem der Offenbacher Junge anfing – und mehr als zwei Jahrzehnte lang nicht mehr aufhörte. Seiner Frau und seinen Kindern, die unter seiner ständigen Abwesenheit leiden. Ratlosen Wegbegleitern, die nicht wissen, wie sie das Leben des Rappers noch retten sollen. Und schließlich einer Zwangseinweisung durch seinen kleinen Bruder in eine geschlossene Klinik in der Türkei 2024, die dem Rapper laut eigener Aussage das Leben rettete. „Ich war schon tot.“
Ein Gramm links, ein Gramm rechts
Es ist eine Dokumentation über den Versuch, jemanden zu retten, der sich nicht retten lassen will: Haftbefehl berichtet, wie er nach einem Streit mit seinem Bruder versucht habe, sich mit Kokain das Leben zu nehmen: „Ein Gramm links, ein Gramm rechts. Ein Gramm links, ein Gramm rechts. Alle 20 Minuten.“ Er sei eingeschlafen, auf der Intensivstation aufgewacht, habe dort alle Kabel von sich gerissen und rumgeschrien. Dann sei er abgehauen und habe weitergemacht: noch mal zehn Gramm.
Es ist auch eine Szene zu sehen, in der es für das Kamerateam bedrohlich wurde. Der Interviewer fragt Haftbefehl im Hotel nach einem verunglückten Konzert, warum er den Auftritt nicht abgesagt habe, sein Arzt habe doch gesagt, dass für ihn Lebensgefahr bestehe. Haftbefehl wird aggressiv, weigert sich, das Ansteck-Mikrofon abzugeben, als das Kamerateam gehen will, er will stattdessen die Kamera haben. Dann ist zu hören, wie er flucht, droht und schreit: „Raus, ihr Hurensöhne!“ „Allah, vernichte diese Hurensöhne!“
Und man sieht den Rapper in noch viel erbarmungswürdigeren Zuständen: Er liegt röchelnd mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einer Couch, kann sich kaum noch bewegen oder sprechen. Irgendwann kämpft er sich hoch, zündet eine Zigarette an, zeigt auf ein Bild von sich und röchelt: „Das ist der Dreck.“ Es ist auch für den Zuschauer wie eine Erlösung, als sein Bruder den Rapper endlich in die Klinik in Istanbul bringt, ohne dessen Wissen seine Vormundschaft übernimmt und ihn erst mal nicht mehr rauslässt.
Was wird von ihm bleiben?
In dem Film, der vom 28. Oktober an auf Netflix zu sehen ist, wird aber noch etwas deutlich: was für ein musikalisches Genie Haftbefehl ist, und wie das selbst in den schlimmsten Zuständen immer noch aufblitzt. Diese unendliche Leidenschaft, mit der er seine Texte ins Mikrofon brüllt. Diese einzigartige Sprache, „Ghetto-Esperanto“ nennt es der Rapper Marteria, die Deutschrap komplett verändert und bereichert hat. „Wenn es um die Kunst geht, ist mir alles egal“, sagt Haftbefehl.
Und dann werden noch ein paar interessante Fragen aufgeworfen: Was wäre aus Haftbefehl geworden, hätte er nicht wenigstens die Musik als Instrument gehabt, um sein Trauma zu verarbeiten? Und was wird von ihm bleiben: Haftbefehl, der Junkie? Oder Haftbefehl, der Musiker? Diese Frage stellt er selbst.
Andere Fragen werden ausgespart: Wie eng sind seine Verbindungen zur organisierten Kriminalität? Wie landete 2020 eine Kugel in seinem Bein? Wie kam es zu der Fahrerflucht in Darmstadt, wo er 2024 in ein Geschäft gerast sein und Passanten auf dem Bürgersteig nur knapp verfehlt haben soll? Warum brüllt er immer noch die Zeilen „Rothschild-Theorie, jetzt wird ermordet“ von Konzertbühnen, obwohl er kein Antisemit sein will?
Am Ende bleibt auch unklar, ob der Rapper seine Drogenprobleme jetzt im Griff hat. Darum ging es Haftbefehl bei dieser Dokumentation aber auch nicht. Er wollte, dass seine Geschichte erzählt wird. Aus seiner Sicht. Falls ihm mal etwas passiert. „Bis ich sterbe, werde ich Musik machen“, sagt er in „Babo“. Hoffentlich dauert das noch.
Babo läuft vom 28. Oktober an auf Netflix.
