Drohende Halbleiterkrise: „Chipkrise könnte sich im schlimmsten Fall über 12 bis 18 Monate hinziehen“

Nexperia, ein wichtiger Produzent einfacher Halbleiter, hat Lieferprobleme. Schon bald könnten die Bänder vieler Autobauer stillstehen.

Lieferprobleme bei Halbleitern beschäftigen Autohersteller und die Bundesregierung. Nach dem Verband der Automobilindustrie (VDA) warnt auch der Verband der Elektro- und Digitalindustrie (ZVEI) vor einer Krise. Sie halten Produktionsstopps für vorstellbar. Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Wie kam es zu dem Chip-Engpass?

Bei dem Halbleiterhersteller Nexperia gibt es Lieferprobleme, nachdem die niederländische Regierung die Kontrolle über die von einer chinesischen Konzernmutter geführte Firma übernommen hatte. China stoppte daraufhin die Ausfuhr von Nexperia-Produkten für die Autoindustrie. Der chinesische Mutterkonzern von Nexperia, Wingtech, steht wegen angeblicher Risiken für die nationale Sicherheit auf einer schwarzen Liste der US-Regierung. „Am 10. Oktober erhielten Automobilhersteller und Zulieferer eine Mitteilung von Nexperia, in der eine Abfolge von Ereignissen beschrieben wurde, die dazu führt, dass das Unternehmen die Belieferung der Automobilzulieferkette mit seinen Chips nicht mehr in Gänze gewährleisten kann“, sagt Hildegard Müller, Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie (VDA).

Was für Chips stellt Nexperia her?

Nexperia ist ein wichtiger Anbieter einfacher Halbleiter. Das sind einfache Bauteile, die aber für die Wirtschaft unverzichtbar sind. Die Chips seien „Massenware für einfache Steuerungen“, sagt Ferdinand Dudenhöffer, Direktor am Center Automotive Research in Bochum. „Es ist ein Millionen-Markt.“ So ist Nexperia mit einem Marktanteil von 40 Prozent der weltgrößte Anbieter einfacher Halbleiter. Die Firma entwickelt zudem moderne Chips für Batteriemanagement.

In welche Bauteile aus der Autoindustrie werden die Chips verbaut und wieso sind sie wichtig für die Autobranche?

Die Halbleiter von Nexperia verarbeiten zum Beispiel Signale in Steuergeräten oder regeln und stabilisieren die Spannung. „Nexperia ist ein wichtiger weltweiter Großlieferant von Halbleitern, die beispielsweise häufig in elektronischen Steuergeräten von Fahrzeugelektroniksystemen zum Einsatz kommen, die aber auch für andere Branchen relevant sind“, sagt VDA-Präsidentin Müller.

Ab wann drohen Produktionsstopps in der deutschen Autoindustrie?

Volkswagen hat Beschäftigte laut der Nachrichtenagentur Reuters gerade erst vor einem Produktionsstopp aufgrund eines drohenden Mangels an Bauteilen gewarnt. Vor dem Hintergrund der dynamischen Lage könnten Auswirkungen auf die Produktion kurzfristig „nicht ausgeschlossen werden“, soll der Autobauer den Beschäftigten in einer Mitarbeiterinformation mitgeteilt haben.

Auch der VDA warnt: Die Situation könne schon in naher Zukunft zu erheblichen Produktionseinschränkungen, gegebenenfalls sogar zu Produktionsstopps führen, falls die Lieferunterbrechung von Nexperia-Chips nicht kurzfristig behoben werden könne. Der VDA sei daher nun mit den betroffenen Unternehmen, der Industrie, der Bundesregierung sowie der EU-Kommission in Kontakt.

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Mercedes sagt, dass es aufgrund der großen Komplexität und Volatilität zum jetzigen Zeitpunkt schwierig sei, verlässliche Prognosen zu machen. „Dank guter partnerschaftlicher Beziehungen mit unseren Lieferanten, der Digitalisierung vieler unserer Prozesse und der Umsetzung der Lessons Learned aus der Chipkrise sind wir im Kurzfristzeitraum abgesichert“, heißt es aus Stuttgart. Man arbeite intensiv mit seinen Partnern daran, „eventuell auftretende Lücken zu schließen“. Es werde in der Branche „fieberhaft nach anderen Lieferanten gesucht“, sagt Autoexperte Dudenhöffer. „Die gibt es – aber die können nicht zaubern und über Nacht Kapazitäten aus dem Boden stampfen. Es könnte sich im schlimmsten Fall über 12 oder 18 Monate hinziehen“, schätzt Dudenhöffer.

Ähnlich äußert sich BMW: „Die Produktion in unseren Werken verläuft weiterhin planmäßig“, heißt es deswegen beim Münchener Autobauer BMW. Dort will man von Produktionsausfällen erstmal nichts wissen. „Wir stehen in engem Kontakt mit unseren Lieferanten und bewerten die Lage fortlaufend.“

Abgesehen davon hofft man darauf, dass bald eine politische Lösung gefunden wird. Der niederländische Wirtschaftsminister Vincent Karremans telefonierte nach eigenen Angaben am Mittwoch mit seinem chinesischen Amtskollegen Wang Wentao. „Wir haben weitere Schritte besprochen, um eine Lösung zu finden, die im Interesse von Nexperia, der europäischen und der chinesischen Wirtschaft liegt“, sagte er.

Der Autozulieferer ZF hat daher direkt nach Bekanntwerden der kritischen Situation bei Nexperia „eine Taskforce eingerichtet, die die aktuelle Lage sehr genau beobachtet und evaluiert“, so ein Sprecher von ZF. „Gemeinsam mit unseren Kunden und Lieferanten arbeiten wir daran, die von Nexperia-Produkten abhängigen Lieferketten weiterhin stabil zu halten und alternative Lieferketten zu prüfen.“

Was macht die Regierung?

Die Bundesregierung berät am Mittwoch mit den Autoherstellern über mögliche Lieferengpässe bei Halbleitern. „Wir nehmen die Situation der betroffenen Unternehmen sehr ernst und sind zum Sachverhalt mit den Unternehmen sowie den niederländischen und europäischen Partnern in verschiedenen Formaten im Gespräch“, hieß es am Mittwochabend aus dem Bundeswirtschaftsministerium gegenüber „Reuters“. Noch am Mittwoch finde eine Schaltkonferenz mit Verbänden und Unternehmen – Hersteller und Zulieferer – aus der Automobil- und Elektronik-Industrie mit dem zuständigen Staatssekretär Frank Wetzel statt.

Wie lange reichen die Vorräte fertiger Chips?

Das ist aktuell unklar und hängt von vielen Faktoren ab. So ist es zum Beispiel so: Fehlt nur ein Teil, dann können bei einem einzelnen Autobauer die Bänder sofort zum Stehen kommen. Würden etwa die Bänder bei Volkswagen tatsächlich anhalten, könnten Zulieferer die für VW eingeplanten Chips womöglich in Bauteile anderer Kunden einbauen, die dann wiederum länger als geplant versorgt werden könnten. Noch liefere Nexperia teilweise, heißt es bei einem großen Zulieferer hinter vorgehaltener Hand. Es sei aber ein tägliches „Katz-und-Maus-Spiel“. So könne man manchmal Teile aus einem Lagerbestand bekommen, die anderswo eingeplant gewesen seien, oder man könne kurzfristig andere Lieferanten finden. „Es ist ein täglicher Kampf, um unsere Teile zu bekommen“, sagt der Insider.

Welche Folgen hat der drohende Engpass bei den Halbleitern für Mitarbeiter aus der Autoindustrie? Droht in der Autobranche jetzt Kurzarbeit?

Ja, im schlimmsten Fall droht in der Autobranche Kurzarbeit für zehntausende Mitarbeiter. Kommen die Bänder zum Stehen, werden auf jeden Fall aber zuerst Überstunden abgebaut. Auch eventuell noch bestehende Urlaubstage aus dem Vorjahr sollen genommen werden, bevor ein Mitarbeiter seine Kurzarbeit antreten kann.

Im Jahr 2021 gab es schon mal eine Chipkrise – was hat die Autoindustrie damals gelernt und in der Lieferkette verändert?

Nach dem massiven Halbleiterengpass im Jahr 2021 hat die Autoindustrie zum Beispiel für strategisch wichtige Teile Zwischenlager vergrößert. Außerdem wurde die Lieferkette auf mehr als einen Zulieferer ausgebaut und so die Abhängigkeit von einzelnen Lieferanten reduziert. Heute gibt es also mehrere Hersteller für bestimmte strategische Teile, sodass Autobauer nicht mehr von einem Zulieferer abhängig sind. Zudem wurden Logistikwege abgesichert – falls also mal wieder ein Schiff den Suezkanal blockiert, gibt es alternative Routen.

„Zwar haben viele OEMs nach der Chipkrise auch B- und C-Klasse-Halbleiter in ihr Risikomanagement aufgenommen“, sagt Klaus Schmitz von der Unternehmensberatung Arthur D. Little. „Das aber ist nicht flächendeckend passiert – auch weil es primär die Zulieferindustrie betrifft“.

Dudenhöffer weist jedoch darauf hin, dass die jetzige Chipkrise ganz anders gelagert und nicht vergleichbar sei. Jetzt gehe es um Massenware und Centartikel – „dafür ein Lager aufzubauen, ist viel zu teuer“, sagt der Autoexperte. Die jetzige Krise sei außerdem politisch bedingt. „Gegen die Unberechenbarkeit von US-Präsident Donald Trump kann man sich nicht absichern“, so Dudenhöffer. Die Autoindustrie sei hier in den Strudel politischer Streitigkeiten zwischen den USA und China geraten. Dudenhöffer ist der Meinung, dass die Niederländer auf Druck der USA bei Nexperia gehandelt hätten.

Klaus Schmitz von Arthur D. Little weist darauf hin, dass langfristig Unternehmen und Politik an einem Strang ziehen müssten: „Die Nexperia-Krise ist ausschließlich durch politisches Handeln mit Durchgriff bis zur Unternehmensebene ausgelöst worden.“ Zielführend hingegen sei eine gemeinsame Strategie mit Unternehmen und Politik.

Welchen Branchen droht sonst noch ein Engpass?

Allen Branchen droht ein Engpass – egal ob PC, Luftfahrt, Waschmaschinen oder Finanzwelt. Heutzutage sind in fast allen elektronischen Produkten Halbleiter eingebaut. Ohne Steuerungen und Halbleiter, so Dudenhöffer, könne keine Branche mehr existieren.

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