Bereits wenige Stunden vor dem offiziellen Beginn des EU-Gipfels am Donnerstag kam es zu einem ersten Durchbruch: Der slowakische Premier Robert Fico zog sein Veto gegen das 19. Sanktionspaket zurück und machte damit den Weg frei für schärfere Maßnahmen gegen Russlands Energiesektor, die russische Schattenflotte und die Bewegungsfreiheit russischer Diplomaten in der EU. Der Ausstieg aus russischer Energie soll vorgezogen, weitere Öltanker sanktioniert und die Umgehung von Finanzaktionen über Kryptowährungen erschwert werden. Die Einigung auf das 19. Sanktionspaket sei von entscheidender Bedeutung, erklärte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Rande des Gipfels in Brüssel.
Bereits in der Nacht zuvor hatten auch die USA überraschend Energiesanktionen gegen Russland verhängt. Angesichts der Weigerung von Kremlchef Wladimir Putin, den „sinnlosen Krieg“ gegen die Ukraine zu beenden, belegen die USA die beiden größten russischen Ölkonzerne mit Sanktionen, erklärte US-Finanzminister Scott Bessent. „Darauf haben wir gewartet“, sagte Selenskyj. Europa und die USA müssten gemeinsam Druck auf Putin ausüben, damit es zu einer Waffenruhe komme und dieser Krieg ende. „Wir müssen weitermachen, bis Putin diesen Krieg stoppt.“ Druck bedeute, so Selenskyj, weitere Sanktionspakete, umfassende Luftverteidigung und fortgesetzte finanzielle Hilfen.
Wir müssen weitermachen, bis Putin diesen Krieg stoppt.
Wolodymyr Selenskyj,;ukrainischer Präsident
Die Finanzierung der ukrainischen Verteidigung war zugleich der größte Streitpunkt beim Treffen der EU-Regierungschefs. Noch zu Beginn des Gipfels verweigerte der belgische Premier Bart De Wever seine Zustimmung zur Nutzung der in Belgien eingefrorenen russischen Vermögen. „Selbst während des Zweiten Weltkriegs wurden gesperrte Vermögen nie angetastet“, sagte er. Eine überzeugende, rechtssichere Lösung habe er bislang nicht gesehen. Die EU-Kommission hatte vorgeschlagen, 140 Milliarden Euro der beim belgischen Finanzdienstleister Euroclear eingefrorenen Zentralbankgelder in EU-Anleihen zu investieren und den Erlös aus diesem Anleihenkauf zur Waffenbeschaffung zu nutzen.
Belgien blockiert weiter: Dezember-Gipfel soll Einigung bringen
De Wever forderte in Brüssel erneut eine Vergemeinschaftung der Risiken, damit mögliche Klagen aus Moskau nicht allein Euroclear und Belgien träfen und das Land im Falle einer Rückzahlung nicht auf den Kosten sitzen bliebe. Auch solle die EU für belgische Unternehmen in Russland bei Vergeltungsschlägen haften. Das wäre ein Novum. Für andere EU-Staaten ist aber klar, dass man nicht jedes unternehmerische Risiko absichern kann. De Wever konterte: „Stellen Sie sich vor, wir müssten nächstes Jahr oder in zwei Jahren 180 Milliarden Euro plus Entschädigungen zahlen. Das ist doch völliger Wahnsinn.“
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) sprach von „ernstzunehmenden Einwänden“, als er in Brüssel eintraf. In den vergangenen Wochen hatte er mehrfach mit De Wever gesprochen, um eine Lösung zu finden. „Ich teile seine Sorgen“, sagte Merz. Vor dem Gipfel waren EU-Diplomaten überzeugt, dass es eine Einigung geben wird. Umso überraschender war für viele Beobachter die anhaltende Blockade von De Wever bereits am Gipfelmorgen.
Ich teile seine Sorgen
Friedrich Merz (CDU),;Bundeskanzler über die Bedenken des belgischen Premiers
Auch im weiteren Verlauf des Gipfels gelang es den Staats- und Regierungschefs nicht, Belgien umzustimmen. In der Abschlusserklärung wurde schließlich lediglich festgehalten, dass die EU-Kommission bis zum nächsten Gipfel im Dezember rechtssichere Vorschläge vorlegen soll – ein ohnehin geplanter Schritt. Damit bleibt das Vorhaben zur Nutzung der russischen Gelder weiterhin auf Kurs.
Auf belgischen Wunsch hin soll die Kommission auch mögliche andere Optionen erarbeiten, wie der Finanzbedarf der Ukraine für die Jahre 2026 bis 2027 gedeckt werden könnte. Allerdings sehen EU-Diplomaten keine realistische Alternative zur Nutzung der eingefrorenen Vermögen.
Deutlich leichter fiel den Regierungschefs eine Einigung darüber, den Rotstift bei einer Vielzahl europäischer Gesetze anzusetzen. An ambitionierten Zielen will man zwar festhalten, etwa dem Ziel eines klimaneutralen Europas bis 2050, doch für Unternehmen sollen Vorschriften und Berichtspflichten deutlich reduziert werden. Merz drängte auf Tempo: „Es braucht jetzt wirklich schnelle Entscheidungen in der EU, um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie wiederherzustellen.“
Merz kritisiert EU-Parlament
Scharfe Kritik richtete Merz an das EU-Parlament, wo am Vortag ein Kompromiss zur Abschwächung des EU-Lieferkettengesetzes überraschend gescheitert war. Das Gesetz, das Unternehmen stärker in die Verantwortung nimmt, Menschenrechte in den Lieferketten zu achten, war bereits im Vorfeld von der Wirtschaft wegen überbordender Bürokratie kritisiert worden. Merz bezeichnete das Abstimmungsergebnis als „inakzeptabel“ und forderte das EU-Parlament auf, diese „fatale Fehlentscheidung“ zu korrigieren. „Ich mache mir allergrößte Sorgen um die Arbeitsplätze in ganz Europa in der Industrie.“ Und Deutschland sei besonders betroffen.
Wie viel Deregulierung ist richtig?
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte das Thema Bürokratieabbau zuletzt zu einer Top-Priorität erklärt und mehrere Maßnahmenpakete angekündigt, sogenannte Omnibusse. Ziel ist es, Gesetze zu vereinfachen und Auflagen für Unternehmen zu reduzieren. In einem Brief an die Regierungschefs zum Gipfel mahnte sie jedoch: „Obwohl Vereinfachung notwendig ist, wird sie dies allein nicht für Wettbewerbsfähigkeit sorgen.“ Es seien auch Innovationen nötig. Zudem müsse Bürokratie auch auf nationaler und regionaler Ebene abgebaut werden.
Vor allem für Deutschland, Frankreich, Italien und Polen kann der Rotstift gar nicht dick genug sein. Auf ihre Initiative hin enthält die Gipfelerklärung die Aufforderung, die Omnibus-Pakete für Landwirtschaft, kleine und mittlere Unternehmen, Nachhaltigkeitsberichterstattung und Sorgfaltspflichten, Digitalisierung, Verteidigungsbereitschaft und chemische Produkte rasch abzuschließen.
Wir stehen auch deshalb unter Druck, weil die Energiepreise zu hoch sind. Das spüren die Haushalte, aber auch die gesamte europäische Wirtschaft.
Mette Frederiksen,;Ministerpräsidentin Dänemarks
Die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen warnte jedoch davor, Klimaschutzgesetze zu Gunsten von Wettbewerbsfähigkeit abzuschwächen. Manche in Europa hätten Sorge, die Wirtschaft könne unter ehrgeizigen Klimazielen leiden, sagte sie. Das sei jedoch ein falscher Gegensatz. Denn die europäische Wettbewerbsfähigkeit sei aus verschiedenen Gründen unter Druck geraten, etwa wegen der Überregulierung, Bürokratie und hohen Energiepreise. Diese Belastungen spürten sowohl die Haushalte als auch die gesamte Wirtschaft. Um die Energiepreise zu senken, müsse Europa auf saubere Energiequellen umstellen. „Wir werden weiterhin zu denen gehören, die Druck machen“, kündigte die Dänin an.
