Erdgas: Bundesregierung gelingt neuer Durchbruch – mit fragwürdigen Folgen

In Brüssel kommt offenbar Bewegung in eine seit Monaten blockierte energiepolitische Diskussion. Laut übereinstimmenden Medienberichten haben sich das Bundeswirtschaftsministerium und die EU-Kommission auf zentrale Punkte der deutschen Kraftwerksstrategie geeinigt. Im Mittelpunkt steht der geplante Bau neuer Gaskraftwerke mit einer Gesamtleistung von etwa 12,5 Gigawatt (GW).

Gaskraftwerke: Neues Rückgrat der Versorgungssicherheit?

Laut der Zeitung für kommunale Wirtschaft (ZfK) sollen die neuen Gaskraftwerke Teil eines Kapazitätsmechanismus werden, mit dem Deutschland die Versorgungssicherheit absichern will, wenn bis 2030 Kohle- und Kernkraftwerke endgültig vom Netz gehen. Eine feste Frist für den späteren Umstieg dieser Anlagen auf Wasserstoff sei in der Brüsseler Verständigung allerdings nicht vorgesehen. Das Ministerium wollte laufende Gespräche auf Anfrage der Zeitung nicht kommentieren.

Eine endgültige Genehmigung aus Brüssel liegt bisher nicht vor. Erst wenn die Europäische Kommission die Pläne beihilferechtlich freigibt, kann die Strategie als Kraftwerkssicherungsgesetz (KWsG) im Bundestag beraten werden. Die Energiebranche wartet seit zwei Jahren auf den Start der Ausschreibungen, wie der Verband kommunaler Unternehmen (VKU) bestätigt.

„Es ist gut, wenn jetzt endlich Bewegung in die Sache kommt“, zitiert die ZfK einen VKU-Sprecher. „Eine Einigung wäre ein wichtiger Schritt, damit das Verfahren weitergehen kann. […] Was am Ende genau rauskommt, schauen wir uns in Ruhe an. Denn nur, was die EU-Kommission wirklich genehmigt, lässt sich in Deutschland umsetzen und an dieser Stelle sind wir noch nicht.“

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Darum braucht Deutschland neue Kraftwerke

Die Notwendigkeit zusätzlicher „gesicherter Leistung“ ist unstrittig. Laut dem Versorgungsbericht 2025 der Bundesnetzagentur werden bis 2035 zwischen 22,4 und 35,5 GW an zusätzlicher, regelbarer Kapazität gebraucht, um Dunkelflauten und saisonale Schwankungen auszugleichen.

„Die sichere Versorgung mit Strom ist zentral für unsere Wettbewerbsfähigkeit“, kommentierte Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche das Monitoring der Behörde. „Unternehmen und Verbraucher müssen sich darauf verlassen können, dass sie zu jedem Zeitpunkt mit Strom versorgt werden. Wir haben jetzt schon angespannte Netzsituationen an besonderen Tagen und bei besonderen Wetterlagen. Das Netz darf nicht auf Kante genäht werden.“

Die geplanten 12,5 Gigawatt wären also nur ein erster Schritt. Doch Fachleute wie Philipp Schröder, Gründer und CEO des Hamburger Energieunternehmens 1Komma5°, weisen darauf hin, dass auch andere Lösungen – etwa Speicher, flexible Lasten oder virtuelle Kraftwerke – einen erheblichen Beitrag leisten könnten. „Das Ziel muss sein, durch mehr Wettbewerb die besten Lösungen für den günstigsten Strom und das sicherste Stromsystem zu gewährleisten“, betont Schröder, der mittlerweile in Brüssel eine Beschwerde gegen die Kraftwerkstrategie eingereicht hat.

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EU-Kriterien setzen klaren Rahmen

Die Brüsseler Zustimmung hängt maßgeblich davon ab, ob Deutschlands Kapazitätsmechanismus mit den EU-Regeln vereinbar ist. Nach der Strommarktreform (EU) 2024/1747 dürfen solche Mechanismen nur genehmigt werden, wenn sie technologieoffen und dekarbonisierungsorientiert ausgestaltet sind. Die Kraftwerkstrategie dürfe also, so Schröder, „nicht alte Strukturen einseitig zementieren, sondern muss die wirtschaftlichsten und klimafreundlichsten Lösungen berücksichtigen“.

Zudem legt die bestehende Elektrizitätsverordnung (EU) 2019/943 strenge CO2-Grenzwerte fest: Neue Anlagen dürfen maximal 550 Gramm CO2 pro Kilowattstunde ausstoßen, bestehende Kraftwerke ab 2025 zusätzlich nur 350 Kilogramm CO2 pro Kilowatt Leistung und Jahr.

Damit gilt: Je länger Gaskraftwerke ohne Wasserstoff laufen, desto schwerer wird ihre Vereinbarkeit mit EU-Klimarecht.

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Der schwierige Weg zum Wasserstoffkraftwerk

Offiziell sollen die neuen Gaskraftwerke „H2-ready“ gebaut werden. Doch was das konkret heißt, ist rechtlich nicht klar definiert. Mitunter laut einer Studie des europäischen Turbinenverbands ETN Global und einer 2023 erschienenen Übersicht der Fraunhofer-Gesellschaft ist der Umstieg auf reinen Wasserstoffbetrieb zwar technisch möglich, aber aufwendig und teuer.

Ein vollständiger Betrieb mit Wasserstoff ist vor 2035 unwahrscheinlich, zeigt der Hydrogen Review 2025 der Internationalen Energieagentur (IEA). Gründe sind die geringe Verfügbarkeit von grünem Wasserstoff und der schlechte Gesamtwirkungsgrad: Die Rückverstromung aus Wasserstoff erreicht in der Praxis kaum mehr als 35 Prozent, was sie zur teuersten Option im Energiesystem macht.

„Das Potenzial für eine emissionsarme Wasserstoffproduktion aus angekündigten Projekten, die bis 2030 verfügbar sein könnten, ist im Vergleich zum Global Hydrogen Review 2024 zurückgegangen“, so die IEA. „Darüber hinaus schätzen wir, dass sich bei der Hälfte der angekündigten Projekte der Starttermin gegenüber dem von den Entwicklern angekündigten Datum für die kommerzielle Inbetriebnahme verzögern wird.“

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Mehr Flexibilität statt fossiler Brücken

Mittels neuer gesetzlicher Instrumente ließen sich Gaskraftwerke womöglich teilweise ersetzen. Das im aktuellen Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) verankerte Programm „Nutzen statt Abregeln 2.0“ (§ 13k EnWG) verpflichtet Netzbetreiber, überschüssigen Ökostrom nicht länger abzuschalten, sondern in Speicher, Wärmepumpen oder Elektrolyseure umzuleiten.

Berechnungen des Forschungszentrums für Energiewirtschaft (FfE) im Auftrag von Agora Energiewende zufolge könnten solche Maßnahmen – zusammen mit flexiblen Verbraucher*innen und virtuellen Kraftwerken – mehrere Gigawatt an regelbarer Leistung ersetzen. Genau diese Optionen verlangt auch die Europäische Kommission im Rahmen ihrer beihilferechtlichen Prüfung als Nachweis der Technologieoffenheit.

„Wenn der Markt fair ist, profitieren auch Verbraucher direkt durch einen sinkenden Strompreis.“

Philipp Schröder

Die Bundesregierung hat mit der Verständigung in Brüssel einen entscheidenden Schritt Richtung Versorgungssicherheit getan. Doch die politischen und ökologischen Nebenwirkungen sind erheblich. Ohne klare Regeln für den Wasserstoffumstieg, ohne garantierte Methanreduktion und ohne echte Chancengleichheit für Speicher und Flexibilität droht die „Brückentechnologie“ Erdgas zur Dauerlösung zu werden.

Quellen: Zeitung für kommunale Wirtschaft; Bundesnetzagentur; Bundesministerium für Wirtschaft und Energie; 1KOMMA5°; Amtsblatt der Europäischen Union; „Hydrogen Gas Turbines: ETN Global Report“ (ETN, 2024); Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme; International Energy Agency; „Haushaltsnahe Flexibilitäten nutzen: Wie Elektrofahrzeuge, Wärmepumpen und Co. die Stromkosten für alle senken können“ (Agora Energiewende, 2023)

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