„Es reicht nicht, nur Auto- und Stahlgipfel zu veranstalten. Das ist nicht unsere Zukunft.“

Union und SPD haben sie sich als Inspiration gewählt: Die Volkswirtin Nicola Fuchs-Schündeln war Gast bei der gemeinsamen Klausur der Geschäftsführenden Fraktionsvorstände vor wenigen Wochen in Würzburg. Streitereien wollte die Koalition dort beilegen und vor allem Schwung für Reformen sammeln. Fuchs-Schündeln ist Professorin für Makroökonomie in Frankfurt/Main und Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), an dem Soziologen, Politologen, Wirtschaftswissenschaftler, Historiker, Statistiker, Informatiker und Rechtswissenschaftler zusammen forschen.

Frau Fuchs-Schündeln, weltweit sind Autokraten und Populisten auf dem Vormarsch. In Deutschland liegt die in Teilen rechtsextreme AfD in bundesweiten Umfragen auf Platz 1 bis 2. Woran liegt das?

Es gibt viele Gründe, aber ein starker Treiber ist die Unzufriedenheit mit der Daseinsvorsorge vor Ort. Das zeigt sich auch in Deutschland. Es wurde über Jahrzehnte wenig in lokale Infrastruktur investiert. Die Bahn kommt zu spät, es gibt Schlaglöcher in der Straße, Brücken müssen gesperrt, Schulgebäude wegen Baufälligkeit geschlossen werden. Die Unzufriedenheit mit solchen Zuständen überträgt sich in eine Unzufriedenheit mit dem politischen System.

Wie passt das dazu, dass der Lebensstandard in Deutschland relativ hoch ist?

Der Kontrast macht den Effekt der Unzufriedenheit besonders stark. Deutschland ist eines der reichsten Länder Europas, es geht uns eigentlich gut. Dennoch erleben Bürgerinnen und Bürger oft, dass etwas nicht funktioniert. Dazu gehört auch die Ansprechbarkeit des Staates vor Ort. Wer keinen Termin im Bürgeramt bekommt, wenn das Ordnungsamt nicht auf E-Mails antwortet, bekommt man nicht das Gefühl, dass der Staat seine Aufgaben erfüllt. Entscheidend ist außerdem, dass das Wirtschaftswachstum wieder anspringt. Denn das Gefühl der Stagnation und wachsender Sparbedarf verstärken Verteilungskämpfe. Rechtspopulistische Parteien nützen das dann gezielt für Anti-Migrations-Rhetorik. Mit einem „Wir-gegen-die“-Gefühl lassen sich Frustrierte schnell einsammeln.

Die Konjunktur in Deutschland steigt bislang allenfalls zaghaft. Was müsste passieren, damit es steiler bergauf geht?

Wir brauchen mehr Investitionsanreize. Aber es braucht auch etwas viel Grundsätzlicheres, nämlich die Bereitschaft, sich auf ein neues Wirtschaftsmodell einzulassen. Die politische Debatte dreht sich oft noch zu sehr um die alten etablierten Industrien, wie Auto- und Maschinenbau oder Stahl. Die darf man nicht aus dem Auge verlieren. Aber es reicht nicht, nur Auto- und Stahlgipfel zu veranstalten. Das ist nicht unsere Zukunft. Es fehlt die Vision für den Aufbau von Neuem. Das gilt auch für die Rentenpolitik: Da machen die Parteien viel Business as usual. Die Probleme werden dadurch nicht gelöst.

Der Reihe nach: Welchen Anteil haben Pandemie, Ukraine-Krieg und US-Zölle an der schwachen Konjunktur?

Die externen Schocks reichen nicht als Erklärung. Das niedrige Produktivitätswachstum hat seinen Ursprung in den 1990er Jahren, genau zum Beginn der Digitalisierung. Die USA hat deren Chancen sehr viel besser genutzt. Deutschland hat die Digitalisierung ein Stück weit verschlafen. Zu dieser strukturellen Schwäche kommen dann die externen Schocks noch dazu.

Ist das vor allem ein staatliches Problem oder müssen die Unternehmen sich auch an die eigene Nase fassen?

Es ist vor allem ein staatliches Problem. Regulierung hemmt nun mal Innovationen. Dazu kommt allerdings insgesamt eine Mentalität mangelnder Risikobereitschaft in Deutschland. Das sieht man auch auf dem Arbeitsmarkt. Deutschland ist ein Land der Firmenjubiläen – die Dauer der Betriebszugehörigkeit beeinflusst Lohnhöhen, Abfindungszahlungen, Betriebsrenten, Kündigungsschutz. Dabei ist das Wirtschaftswachstum in Ländern höher, in denen Arbeitnehmer öfter den Arbeitgeber wechseln. Und das Lohnwachstum des Einzelnen steigt auch mit häufigerem Jobwechsel.

Wofür plädieren Sie?

Die Mitnahme von Betriebsrenten muss zwingend erleichtert werden. Für die Arbeitsmarktflexibilität spielen aber auch Dinge wie ein gut funktionierender Wohnungsmarkt und einfache Schulwechsel über Bundeslandgrenzen hinweg eine Rolle.

Braucht es also doch die Kettensäge, die der rechtspopulistische Präsident Argentiniens, Javier Milei, als Sinnbild für die Zerschlagung vieler Strukturen eingeführt hat?

Nein, Disruption geht auch anders. Bürokratie ist ja nicht per se schlecht. Sie verhindert Willkür und Korruption und gibt dadurch Sicherheit. Trotzdem kann man Strukturen überdenken und schauen, was wirklich effektiv ist, was vor allem Symbolcharakter hat und ob der Nutzen im Verhältnis zu den Kosten steht.

Reformen wecken auch Ängste. Wie lässt sich dem begegnen?

Das ist eine Frage der Kommunikation. Neues ist ja nicht immer schlechter als das Alte, es kann neue Impulse bringen. Die Chancen von Veränderungen müssen mehr herausgestellt werden.

Gar nicht so einfach in einer Sozialstaatsdebatte, in der wegen Finanzproblemen vor allem über Einsparungen gesprochen wird.

Aber da lassen sich ja Ziele verknüpfen. Wenn staatliche Leistungen nicht mehr von x verschiedenen Ämtern kommen, spart man bei der Verwaltung und es wird gleichzeitig übersichtlicher für die Betroffenen. Verbunden wäre mit Vereinfachungen allerdings der Verzicht auf Einzelfallgerechtigkeit. Aber wenn dadurch das System günstiger und transparenter wird, haben alle etwas davon.

Sie beklagen „Business as usual“ in der Rentenpolitik. Was meinen Sie?

Statt teure Projekte wie die Mütterrente oder die Haltelinie für das Rentenniveau durchzudrücken, weil man das halt immer schon gefordert hat, müsste das Finanzierungsproblem angegangen werden. Dazu braucht man keine Kommissionen, die möglichen Hebel sind ja klar: Entweder müssen die Beitragssätze hoch oder die Rentenzahlungen sinken. Der dritte Weg ist, das Renteneintrittsalter anzuheben, indem man es an die gestiegene Lebenserwartung koppelt. Es ist eine tolle Entwicklung, dass wir im Schnitt immer älter werden. Darauf zu reagieren mit einer leicht erhöhten Arbeitszeit, ist kein Drama. Wenn man das sehr klar und entschlossen kommuniziert, ist die Chance groß, dass die Bevölkerung das versteht.

Klar und entschlossen ist die Koalition bei der Wehrdienst-Reform gerade nicht. Wie viel Streit und Profilierung verträgt eine Regierung?

Wer die Rechtspopulisten in Schach halten will, muss gestalten und Reformen umsetzen. Beide Koalitionspartner würden bei Wahlen mehr profitieren, wenn sie viel hinbekommen, als wenn sie viel streiten.

Sollte es auch Kompromissfähigkeit in Richtung AfD geben?

Da bin ich sehr skeptisch. Rechtspopulistische Parteien profitieren von Zusammenarbeit. Und sie profitieren auch davon, wenn Parteien der Mitte ihre Rhetorik oder Themen übernehmen. Es ist also wichtig, andere Narrative in den Mittelpunkt zu stellen. Und ich warne davor, Rechtspopulismus einfach mal auszuprobieren. Wenn autokratische oder populistische Parteien erstmal an der Macht sind, bleiben sie dort im Schnitt länger als demokratische Regierungen. Denn sie untergraben bewusst demokratische Institutionen.

Wie würde sich das auf das Wirtschaftswachstum auswirken?

Die Forschung zeigt ganz klar: Demokratien sind besser für das Wirtschaftswachstum als Autokratien. Das liegt daran, dass Demokratien klare Regelungen haben, also Bürokratie im positiven Sinne, dass es dort weniger Korruption gibt und dass sie offener sind für Kooperationen und Außenhandel.

Sie haben viel zu Ostdeutschland geforscht. Wie erklären Sie den starken Rückhalt, den die AfD dort bekommt?

Die Menschen in Ostdeutschland haben mit der Wiedervereinigung schon eine gewaltige Transformationsperiode erlebt. Damit umzugehen, war eine große Herausforderung. Die Absorptionsfähigkeit für neue Krisen ist deswegen geringer, die Ängste größer. Außerdem gibt es einen großen Unterschied zu Westdeutschland: Ostdeutsche Haushalte haben weniger Vermögen. Es war schlicht weniger Zeit, das aufzubauen. Ein finanzieller Puffer macht aber resilient gegenüber Risiken und Krisen. Eine entschlossenere Erbschaftssteuer, mit der ein gewisser Ausgleich geschaffen werden kann, würde dem Land also gut tun.

Die Algorithmen der Sozialen Netzwerke befördern den Katastrophenmodus. Wie lässt sich da gegensteuern?

Natürlich muss man über die Regulierung von Algorithmen nachdenken. Aber vielleicht geht es auch mit mehr Hilfe statt mit mehr Vorschriften. Es gibt interessante Ansätze, wie KI genutzt werden kann, um Kommunikation im Netz zu verbessern und den Ton ziviler zu machen. KI kann zum Beispiel Formulierungsvorschläge machen, die einen schriftlichen Wutanfall deutlich sachlicher formulieren. Es gibt Studien, wonach sich die Sprache, die KI nutzt, auf die menschliche Sprache überträgt. Da könnte man KI also sehr positiv nutzen. Das wäre doch mal ein Hoffnungsschimmer.

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