Flucht und Vertreibung:: Ein Enkel-Oma-Projekt mit heilender Wirkung

Der junge Filmemacher Michael Eibl erzählt gemeinsam mit seiner Großmutter die Geschichte von deren Vertreibung vor 80 Jahren. „30 Kilo Heimat“ ist die Aufarbeitung eines über Generationen wirkenden Traumas und ein Werk von großer Aktualität.

Ein Enkel-Oma-Projekt mit heilender Wirkung

Michael Eibl holt sich eine Flasche Spezi, schlägt ein Bein übers andere. Und dann sitzt der 18-Jährige mit dem kurzen Haarzopf eine Stunde fast regungslos neben seiner 85-jährigen Oma Christl. Die beiden haben zusammen die Dokumentation „30 Kilo Heimat“ gedreht, die an diesem Abend vor knapp 100 Gästen an der Volkshochschule in Haar gezeigt wird.

Der junge Mann, der gerade noch die Mittelschule in Haar besucht hat, erzählt darin die Fluchtgeschichte seiner Großmutter, die in Pastetten im Landkreis Erding lebt. Es geht um das über Generationen hinaus wirkende Leid von Flucht und Vertreibung. In der Diskussion nach der Vorführung wird die erfahrene Traumatherapeutin Heike Gattnar, die heute in Polen Kollegen ausbildet, die von Krieg und Unterdrückung betroffenen Ukrainern und Belarussen helfen, den Film als Geschenk bezeichnen, das offene Wunden schließen helfe. „Da finde ich den Film etwas wunderbar Gelungenes.“

Christl Eibl musste mit fünfeinhalb Jahren mit ihrer Familie das Zuhause in Heiligenkreuz bei Marienbad verlassen, das heutige Chodsky Ujezd. Die Seniorin erzählt im Film beim Besuch ihrer alten Heimat aus ihren Erinnerungen. Eines Tages im Frühsommer 1946 habe jemand an der Tür geklopft. Es sei die Order ergangen, innerhalb von drei Stunden am Dorfplatz zu sein, mit „30 Kilo Gepäck“. Nicht mehr. „Da kann man sich vorstellen, was das für eine Aufregung war.“

So ruhig wie Oma und Enkel während des Films im Vortragsraum der VHS nebeneinandersitzen, so ruhig wird die Geschichte erzählt. Christl Eibl ist die Hauptperson in diesem Road-Movie. Sie erzählt, wo sie im Kindergarten mit ihrer besten Freundin gespielt hat, sie ist in der Dorfkirche zu sehen, geht Alleen entlang. Es sind lange Kamera-Einstellungen, der Film gibt der Frau Zeit zu sinnieren. Und man meint zu spüren, wie bei ihr die Erinnerungen hochkommen. Hoch emotional wird es beim Besuch des Elternhauses, in dem die heute dort lebenden Bewohner Christl Eibl nach erstem Zögern herzlich empfangen. Die Kamera ist in dem Moment nicht dabei, ist nur auf das Haus gerichtet. Man hört die Stimmen durchs Fenster. Und das Kopfkino läuft. „Ich glaub’, hier ist meine Schwester geboren“, sagt die Seniorin und erzählt, wie sie als Kind am Fenster sitzend die Geranienblüten abgepflückt habe. Kindheitserinnerungen werden wach. „Ich bin selig, dass ich das jetzt sehen durfte“, sagt sie hinterher.

Aber vor allem erzählt sie dann wieder vor der Kamera, wie man sich in den Armen gelegen sei und wie alle mit den Tränen gekämpft hätten. Es ist ein Akt der Versöhnung zwischen Deutschen und Tschechen und am Ende Ausdruck einer Haltung, zu der Christl Eibl schon vor Jahren aus freier Entscheidung gefunden hat.

„Irgendwann muss man loslassen können“, sagt die 85-Jährige im Film

Heute ist ihre Heimat in Pastetten. Dort sei ihre Familie 1946 gut aufgenommen worden, erzählt sie im Film. Man sei im Gasthof in Reithofen untergekommen. „Die Wirtin war eine so gute Frau.“ Später sei die Familie zu einem Grundstück gekommen, habe ein Haus gebaut. Damals Hausnummer 170, heute an der Buchrainstraße. „Erinnern mag ich mich schon“, sagt die Seniorin in dem Film, „aber an positive Sachen“. Und: „Irgendwann muss man loslassen können.“ Die nach dem Krieg zunächst stimmungsvollen Vertriebenentreffen in Mähring an der Grenze zu Tschechien hätten sie irgendwann irritiert. Zu viele Ewig-Gestrige: „Ich stelle mir da etwas Versöhnliches vor.“

Nach dem Krieg standen zwölf Millionen Vertriebene vor der großen Aufgabe, irgendwie mit ihren Erfahrungen umzugehen. Knapp zwei Millionen bauten sich in Bayern ein neues Leben auf. Und viele gaben ihre Erfahrungen und ihre emotionale Belastung unbewusst an ihre Kinder und Enkelkinder weiter. Filmemacher Michael Eibl hat als Kind bei Besuchen bei seiner Oma von sich aus irgendwann den Wunsch geäußert, einen Film über die Vertriebenen-Geschichte seiner Familie zu machen. Und er hat mehr oder weniger unbewusst etwas Segensreiches auf den Weg gebracht. „Mit transgenerationalen Traumata habe ich mich mit zwölf Jahren nicht ausgekannt“, sagt er in der Diskussion im Anschluss an die Vorführung, in der VHS-Leiterin Lourdes María Ros de Andrés mit Traumatherapeutin Gattnar die psychologische Dimension des Verlusts der Heimat bespricht.

Und da schlägt Michael Eibl gleich noch den naheliegenden Bogen zu den Geflüchteten aus den vielen Kriegs- und Elendsregionen der Welt heute, denen gerade eine neue Härte entgegenschlage. Seine Hoffnung: „Dass Menschen ein bisschen empathiefähiger werden, wenn es die Oma betrifft.“

Auf jeden Fall berührt der Film nach Überzeugung von Gattnar eine weithin unterschätzte leidvolle Dimension von Flucht und Vertreibung. Über den erlebten Verlust und die Schmerzen tief im Inneren werde bis heute oft nicht gesprochen. Das Trauma lebe aber in Erzählungen, über Nachahmung, fehlende Bindungsfähigkeit und auch über die Genetik fort. „Man spürt, wenn es einem nicht gut geht.“ Der Film schaffe in seiner ruhigen Art eine Atmosphäre, in der „offene Enden“ einer Lebensgeschichte zusammengeführt würden. „Wie ein Segensspruch“ wirke er. „Es ist nie zu spät.“ Daniela Güthner vom Kulturzentrum „Haus der Donauschwaben“ in Haar sagt: „Es tut gut zu reden“. Der Film könne ihrer Überzeugung nach eine geradezu „heilende Funktion“ übernehmen.

Der Wunsch von Michael Eibl ist nun, dass sein erster Film, der emotionale Tiefe ganz wesentlich durch die von Johannes Beyersdörfer eigens dafür komponierte Musik erhält, möglichst viele Menschen erreicht. Er werde die Kinos im Münchner Umland kontaktieren, sagt er, und wolle damit an Schulen gehen. Auch eine Streaming-Version soll es geben, die gegen Gebühr herunterzuladen ist. Ein Trailer soll in Kürze fertig sein.

Weitere Informationen zum Film sind zu finden über die Homepage 30kg-heimat.de, über die man auch Kontakt aufnehmen kann, um sich für eine Streaming-Version des Films vorzumerken.

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