Die Frankfurter Buchmesse präsentiert sich festivalig wie nie. Doch hinter der schillernden Fassade tobt ein Kampf um die Zukunft des geschriebenen Worts.
238.000 Besucherinnen und Besucher, darunter 120.000 Privatgäste und 118.000 Fachbesucher, strömten zwischen vom 15. bis 19. Oktober an fünf Tagen durch die Frankfurter Messehallen.
Während auf den Hauptbühnen die Welt in Flammen steht, setzt die Messeleitung auf Entertainment: Buchmessedirektor Jürgen Boos’ Ankündigung, man werde noch “festivaliger”, noch “eventiger”, liest sich wie Zynismus angesichts der globalen Krisen.
Die Messe setzt strategisch auf den “New-Adult”-Boom – ein Genre, das politische Realitäten durch individualisierte Identitätsdramen und sexualisierte Eskapismen ersetzt. Hier offenbart sich der Widerspruch einer Branche, die einerseits politischen Dialog beschwört, andererseits systematisch auf unpolitische Feelgood-Ware setzt.
Nicht denken, sondern romantisieren
Dark Romance ist das gefragteste Genre auf der Buchmesse: Sex, Machtspiele und moralisch “graue” Figuren ziehen vor allem junge Leserinnen an.
TikTok-Empfehlungen treiben Bestseller wie Haunting Adeline und Very Bad Kings an – der Umsatz stieg zuletzt um über 200 Prozent. Experten warnen jedoch, dass viele Geschichten Machtmissbrauch romantisieren und Konsens oft fehlt.
Es genügt ein Blick auf kleine Verlage, wie den Konkursbuchverlag von Verlegerin Claudia Gehrke, um zu sehen, dass sich die Themen, die Literatur bewegen, gewandelt haben.
Der alte Streit zwischen Gehrke und Alice Schwarzer in den 1980ern über Pornografie war für seine Zeit prägend. Heute spricht die junge Generation von Politisierten eine andere, globalere Sprache: Sie fragt nicht nur nach Sexualität, sondern nach Macht, Krieg und Kolonialismus.
Die neuen Zensoren: Tech-Konzerne als heimliche Messemacht
Doch nicht nur auf den Verkaufstischen, auch im Unsichtbaren tobt der Kampf um die Deutungshoheit. Während die Messe sich als “Marktplatz des freien Wortes” feiert, kontrollieren US-Tech-Konzerne die Infrastruktur, über die dieses Wort zirkuliert.
Die philippinische Nobelpreisträgerin Maria Ressa brachte die Paradoxie auf den Punkt: Während sie auf der Bühne über Meinungsfreiheit sprach, beschrieb sie, wie Facebooks Algorithmen Demokratien systematisch zerstören.
“Meta-Chef Mark Zuckerberg hat die Demokratie zerbrochen”, so ihr vernichtendes Urteil. Diese Mahnung prägte auch die politischen Debatten der Messe – vor allem über Krieg.
Ukraine: Bühne von Krieg und Frieden
Nirgends war das Interesse der Politik in diesem Jahr so spürbar wie im Fall der Ukraine. Zur Eröffnung sprachen die ukrainische Kulturministerin, der Botschafter und der Messedirektor. Der ukrainische Stand war dieses Jahr prominent vertreten mit über 300 Titeln und 38 Verlagen.
Nach drei Jahren Krieg ist das Ausmaß der Zerstörung in der Ukraine immens. Laut einer gemeinsamen Analyse von Weltbank, UN und EU-Kommission wird der Wiederaufbau des Landes auf rund 524 Milliarden US-Dollar geschätzt – fast das Dreifache des ukrainischen Bruttoinlandsprodukts.
Infrastruktur, Wohnraum und Industrie sind in weiten Teilen zerstört, und die Wirtschaft brach zeitweise um etwa 30 Prozent ein. Zugleich meldete das UN-Menschenrechtsbüro bis August 2025 mehr als 15.400 getötete Zivilistinnen und Zivilisten, darunter viele Kinder.
Ideologische Kriegsführung
Die Einladung von Ministern für “strategische Kommunikation” zur Buchmesse wirft die Frage auf, wie hier Kultur als Instrument der Kriegsführung instrumentalisiert wird.
Während die Zivilbevölkerung unter Bombardierungen, Zerstörung und wirtschaftlichem Zusammenbruch leidet, wird auf einer Messe ein Bild gezeichnet von kultureller Widerstandskraft, das die Realität – Zerstörung, Tod, Vertreibung – kaschiert.
Ein Beispiel bildet der Kulturschaffende Andriy Lyubka. Dieser war für eine Diskussion eingeladen mit dem Titel “Geography of Ukraine: lesson learned“.
Lyubka erklärte dort, er habe als Freiwilliger bereits über 335 Kraftfahrzeuge an die ukrainische Armee vermittelt – finanziert aus von ihm selbst gesammelten Mitteln. Wie Lyubka in der Lage ist, solche Mittel und Infrastruktur bereitzustellen, bleibt fragwürdig, ebenso welche Netzwerke dabei eine Rolle spielen.
Andriy Lyubka, geboren 1987 in Riga und seit seiner Kindheit in Zakarpattia lebend, ist Schriftsteller, Übersetzer und seit 2024 Direktor des Institute for Central European Strategy (ICES) in Uzhhorod, einem 2019 gegründeten Think Tank, dessen erklärtes Ziel die Integration der Ukraine in die transatlantische Gemeinschaft ist.
Unter seiner Leitung werden Strategien, Analysen und Projekte entwickelt, die die Ukraine gezielt politisch, wirtschaftlich und kulturell an den Westen binden.
Lyubka agiert nicht nur als Think-Tank-Leiter, sondern als transatlantischer Meinungsführer, dessen Agenda die Ukraine gezielt auf westliche Strukturen ausrichtet, alternative geopolitische Optionen bekämpft und die strategische Selbstbestimmung des Landes zugunsten einer wachsenden Abhängigkeit vom Westen einschränkt.
Die Organisatoren der Buchmesse fördern hier Nationalismus und keine Völkerverständigung wie – etwa die Entscheidung zeigt, keinen russischen nationalen Stand zuzulassen.
Ein besonders erschütterndes Beispiel dieser ideologischen Vereinnahmung lieferte die Ausstellung des Buches „Stepan Bandera: The Leader of the Ukrainian Idea“ von Mykola Posivnych.
Bandera, der als Führer der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) während des Zweiten Weltkriegs mit dem nationalsozialistischen Regime kollaborierte und dessen Miliz an antisemitischen Pogromen beteiligt war, wird hier als nationale Ikone verklärt.
Diese Präsentation eines Faschisten verwischt die Grenze zwischen kulturellem, Identitätssuche und Geschichtsrevisionismus.
Sie steht in direktem Zusammenhang mit der von Lyubka und dem ICES betriebenen Agenda: Um die Ukraine unkritisch als ausschließlich „westliches“ Projekt darzustellen, werden problematische Teile der eigenen Geschichte, die nicht in dieses Narrativ passen, heroisiert statt aufgearbeitet.
Palästina: Boykott und eigene Wege zu Gerechtigkeit
Auf die Heroisierung Banderas folgt der Boykott Palästinas. Während drinnen Buchhändler Mahmoud Muna in den etablierten Hallen kämpft, – “Ihnen die Möglichkeit zu nehmen, Geschichten zu erzählen, ist eine höchst entmenschlichende Tat” – , zeigt sich an seiner Position, wie begrenzt der Raum für kritische Stimmen geworden ist.
So rief die internationale Initiative “Publishers for Palestine” zum Boykott der Messe auf, weil sie in ihr keine neutrale Plattform mehr sieht. In der Folge blieben 100 Autorinnen und Autoren aus dem offiziellen Ehrengast-Land der Philippinen, bewusst fern – aus Protest gegen die deutsche Unterstützung beim israelischen Genozid in Gaza.
Kampf dem Mainstream
Parallel dazu entstanden so draußen vor den Toren der Messe alternative Räume mit der “Palestinian Liberatory Book Fair“. Während offizielle Bühnen Kriege im Sinne der Leitlinien deutscher Außenpolitik inszenierten, war hier, zwischen Kundgebungen und solidarischen Lesungen, der eigentliche Ehrengast dieser Messe zu spüren.
Genau in diesen Räumen sprach der philippinische Journalist Michael G. Beltran, dessen Website in seiner Heimat in der Vergangenheit zensiert wurde: “Literatur sollte ein Mittel sein, um verschiedene Gruppen zu organisieren und Solidarität zu fördern”, sagte er gegenüber Sabo.
Seine Worte machten deutlich, was in den offiziellen Hallen oft unterging: Während Staaten ihre Narrative pflegen, geht es in dieser Gegenöffentlichkeit um die direkte Verbindung unterdrückter Stimmen.
Die Frankfurter Buchmesse 2025 hat eine schwere Wahl zu treffen. Wird sie ein Ort der Staatsräson und der Kriegslogik? Oder wird sie ein wahrhaft internationalistischer Raum, der den mutigen Stimmen für Frieden und Völkerverständigung eine Plattform bietet?
Die junge Generation, die nach einer gerechteren Welt ohne Krieg verlangt, wartet auf eine Antwort. Die Bücher, die wirkliche Veränderung fordern, sind schon geschrieben.
