Während auf politischer Bühne noch darum gerungen wird, wie es nach der fragilen Waffenruhe zwischen der Hamas und Israel weitergeht, demonstriert eine türkische Hilfsorganisation mit besten Verbindungen zur Regierung in Ankara bereits demonstrativ den gewachsenen Einfluss der Türkei im Gazastreifen. Die IHH verbreitet seit Tagen Bilder von Baggern, die Schutt wegschieben, und Tanklastwagen, die Trinkwasser verteilen. Gut sichtbar auf den Fahrzeugen: die türkische Flagge.
In Israel werden solche Entwicklungen mit Besorgnis beobachtet. Die IHH ist dort wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Hamas und zu anderen islamistischen Gruppen seit 2008 verboten. Der Vorsitzende der Organisation, Fehmi Bülent Yıldırım, ist ein bekennender Islamist und Antisemit. In den Jahren 2012 und 2014 gab es in der Türkei Ermittlungen gegen ihn wegen mutmaßlicher Finanzierung der Terrorgruppe Al-Qaida.
Das israelische Unbehagen geht aber über einzelne Personen und Organisationen hinaus: Der gewachsene Einfluss, über den die Türkei im Nahostkonflikt neuerdings verfügt, wird in Jerusalem mit zunehmendem Argwohn betrachtet. Derweil bemüht Ankara sich auf politischer Ebene, seine Rolle zu stabilisieren. Außenminister Hakan Fidan und Geheimdienstchef İbrahim Kalın trafen sich am Dienstag mit führenden Vertretern der Hamas in der qatarischen Hauptstadt Doha. Am Mittwoch reiste Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit sechs weiteren Ministern nach Qatar. Bei seinem Treffen mit Emir Tamim Bin Hamad Al Thani ging es laut türkischen Medien unter anderem um die geplante Taskforce, die den Waffenstillstand überwachen, Hilfslieferungen sowie den Wiederaufbau koordinieren soll. Man wolle sich wie bisher eng abstimmen, hieß es weiter.
Trump macht sich für Erdoğan stark
Die Türkei und Qatar hatten die Hamas Anfang des Monats gemeinsam an den Verhandlungstisch gebracht und dazu bewegt, dem Waffenstillstand mit Israel und einer Freilassung der Geiseln zuzustimmen. Eine solche Vermittlerrolle hatte Erdoğan seit Langem angestrebt. Sie wurde ihm jedoch von Israel und auch von der amerikanischen Regierung unter Joe Biden versagt.
Erst Donald Trump setzte offenbar gegen israelischen Widerspruch durch, dass die Türkei als Vermittler beteiligt wurde und vergangene Woche im ägyptischen Scharm el-Scheich gemeinsam mit Ägypten, Qatar und den USA zu den Unterzeichnern einer Friedenserklärung gehörte. Dass der amerikanische Präsident in jenen Tagen ausgiebig Erdoğans Beitrag zu dem Waffenruheabkommen pries, dürfte der israelischen Regierung nicht gefallen haben. In Jerusalem erinnert man sich gut an die vielen Konfrontationen, die es mit dem rhetorisch hart austeilenden türkischen Präsidenten während des Krieges gab. Zudem hat Erdoğan ein Handelsembargo gegen Israel verhängt.
Jetzt muss die israelische Regierung zusehen, wie die Türkei sich im Tandem mit Qatar anschickt, auch die Nachkriegsordnung im Gazastreifen mitzugestalten – mit dem Segen Trumps. Die regierungsnahe israelische Zeitung „Israel Hayom“ schrieb am Dienstag, Ministerpräsident Benjamin Netanjahu habe Bedenken, was eine türkische Beteiligung am Wiederaufbau angeht.
Ankara reklamiert hier eine führende Rolle und verweist in diesem Zusammenhang auf seine Erfahrungen mit den im Februar 2023 von Erdbeben verwüsteten Gebieten. Die Katastrophenschutzbehörde Afad hat bereits ein 81 Personen umfassendes Team gebildet, das für eine Entsendung nach Gaza bereitsteht. Sie sollen mit Gerät und Expertise ausgestattet sein, die bei der Bergung der noch verbliebenen israelischen Leichen helfen könnten.
Zunächst hat Israel ihnen aber den Zugang zum Gazastreifen verwehrt, wie die Nachrichtenagentur AFP berichtete. Die IHH betreibt dort Berichten zufolge seit Jahren ein Büro. Die türkischen Ambitionen kann man auch daran ablesen, dass der frühere Afad-Chef, Mehmet Güllüoğlu, ein ehemaliger Botschafter, als Koordinator für humanitäre Arbeit in die Region entsandt wurde. Auch er ist noch nicht im Gazastreifen. In türkischen Medien heißt es vage, er sei „vor Ort“. In seinem Instagram-Kanal schreibt Güllüoğlu jedoch, er halte sich im ägyptischen Al-Arish auf, nahe der Grenze zum Gazastreifen.
Wo Netanjahu die rote Linie sieht
Noch größer sind die israelischen Bedenken, wenn es um einen Beitrag der Türkei zu der in Trumps 20-Punkte-Plan vorgesehenen „internationalen Stabilisierungstruppe“ geht. Die Vorstellung, dass türkische und qatarische Truppen im Gazastreifen stationiert sein könnten, ist für israelische Politiker eine rote Linie. Netanjahus Büro teilte der Online-Zeitung „Times of Israel“ am Mittwoch mit Blick auf Truppen im Gazastreifen mit, es werde „keine türkische Beteiligung“ geben. US-Vizepräsident J. D. Vance äußerte sich während seines Israel-Besuchs am Dienstag und am Mittwoch zu dieser Frage nicht eindeutig. Man werde Israel „auf seinem eigenen Boden“ keine ausländischen Truppen aufzwingen, sagte er während seines Besuchs in dem neuen zivil-militärischen Koordinationszentrum im Süden Israels am Dienstag. Vance fügte hinzu: „Aber wir glauben, dass es eine konstruktive Rolle für die Türkei zu spielen gibt.“
Das Verteidigungsministerium in Ankara hat seine grundsätzliche Bereitschaft zu einer Beteiligung an der Stabilisierungstruppe signalisiert. Türkische Beobachter gehen aber auch wegen des israelischen Widerstandes nicht davon aus, dass es dazu kommt. Die Türkei wolle eine „offene Konfrontation mit Israel“ vermeiden, glaubt der Politikwissenschaftler Mehmet Rakipoğlu von der Mardin-Artuklu-Universität. „In der gegenwärtigen Lage wird die Türkei sich wahrscheinlich auf Wiederaufbau, Polizeiausbildung und humanitäre Logistik konzentrieren.“
Aber auch das würde die israelische Besorgnis wohl nicht beenden. Aus Sicht der Regierung und vieler Israelis sind die Türkei und Qatar eng mit der Hamas verbunden. Von einer sunnitischen „Muslimbruderschaft-Achse“ ist die Rede. Sie habe die lange Zeit gefürchtete und bekämpfte „schiitische Achse“ ersetzt, seitdem Iran und dessen Stellvertreterkräfte maßgeblich geschwächt worden seien.
In israelischen Medien werden in diesen Tagen die Befürchtungen ausgebreitet, die mit dem türkisch-qatarischen Engagement in Gaza verbunden sind. Die Achse beider Länder leite eine neue Ära im Nahen und Mittleren Osten ein, schrieb etwa Zvi Hauser, ein früherer Vorsitzender des Verteidigungsausschusses der Knesset, in einem Gastbeitrag in „Israel Hayom“. Israels Interessen würden dabei unter die Räder geraten. So werde auf Betreiben der Türkei und Qatars ein palästinensischer Staat gegründet werden, der unter der Kontrolle der Hamas stehen werde, schrieb Hauser und warnte: Die türkisch-qatarische Achse bedrohe Israels Existenz. Denn letztlich gebe es „keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Weltanschauung des Ajatollah-Regimes in Iran und derjenigen der Muslimbruderschaft in der Türkei und Qatar“. Letztere Länder seien für Israel sogar noch gefährlicher, weil sie anders als Iran keine Parias, sondern mit dem Westen verbündet seien.
Ankaras Verbindungen zur Hamas
Der Türkei-Fachmann Soner Çağaptay vom Washington Institute for Near East Policy vermutet, dass die Türkei ähnlich wie im Fall des früheren Al-Qaida-Terroristen und jetzigen syrischen Machthabers Ahmed al-Schaara dafür plädieren wird, die Hamas durch Einbindung in Verwaltungsaufgaben zu deradikalisieren.
Zu einer Entwaffnung der Hamas, wie Trumps 20-Punkte-Plan sie vorsieht, hat sich die türkische Regierung bisher nicht explizit bekannt. Der pensionierte Diplomat Göktürk glaubt aber, dass Ankara in dieser Frage wieder ihren Einfluss auf die Hamas geltend machen könnte. Dieser gründe auf der „ideologischen Affinität“ zwischen Erdoğan und den Islamisten. Der Politikwissenschaftler Rakipoğlu meint, eine Entwaffnung sei aus türkischer Sicht „nur im Rahmen eines anerkannten palästinensischen Staates akzeptabel“.
Ohnehin ist unklar, inwieweit die Türkei Einfluss auf den bewaffneten Arm der Hamas hat. Sichtbar ist nur ihr Einfluss auf den politischen Arm. Deren Vertreter gehen in Istanbul seit Jahren ein und aus. Manchen Hamas-Mitgliedern soll die Türkei laut einem Bericht der britischen Zeitung „Telegraph“ im Jahr 2020 sogar türkische Pässe ausgestellt haben. Rakipoğlu sagt, die Türkei habe ihren Einfluss auf die Hamas seit 2023 ausgeweitet, indem sie sich bereit zeigte, für die Unterstützung der Gruppe politische Kosten in Kauf zu nehmen. Das gelte auch für die Bekämpfung israelischer Geheimdienstaktivitäten auf ihrem Gebiet, die Hamas-Akteuren Bewegungsfreiheit ermöglicht habe.
Unklar ist, inwieweit die Türkei in die Arbeit des US-geführten zivil-militärischen Koordinierungszentrums im Süden Israels eingebunden ist, an das auch die Bundeswehr drei Soldaten entsenden will. Das Zentrum soll den Waffenstillstand überwachen, Hilfslieferungen sowie den Wiederaufbau koordinieren. Außenminister Fidan sagte dazu nur: „Kollegen nehmen dort Aufgaben wahr.“
