Hier entsteht etwas Neues. Der Eindruck kommt auf, sobald man den Zeichensaal im Westflügel der Offenbacher Hochschule für Gestaltung (HfG) betritt. Der großzügige, helle Raum erweckt an diesem Nachmittag einen unfertigen, suchenden Eindruck. Studentische Arbeiten liegen auf kleinen Tischen, an einer Wand hängen Konzeptionsskizzen. Ein eigens in den Saal eingezogener, kleiner Raum fällt ebenfalls ins Auge.
„Wir brauchen Entwürfe. Und zwar dringend“, sagt Nadine Fecht in ihrem neuen Professorenbüro. Im Sommersemester ist die 1976 geborene Künstlerin als HfG-Professorin für Zeichnung dem langjährigen Lehrstuhlinhaber Manfred Stumpf nachgefolgt. Ihr Plädoyer für neue Konzepte formuliert Fecht mit Nachdruck. Wenn man so will, bringt es ihr Verständnis von der gesellschaftlichen Relevanz des oft als Hilfsdisziplin unterschätzten Mediums Zeichnung auf den Punkt.
Nadine Fecht – stylishe dunkelblaue Jacke, weißes T-Shirt, schwarze Hose, Sneaker – kommt locker und zugänglich rüber. Und doch strahlt sie auch Entschlossenheit aus. Zeichnung, unterstreicht sie, sei zukunftsweisend – womöglich sogar mehr als andere künstlerische Medien. Deren Qualität sei, so Fecht, dass man zeichnerisch „utopische Dinge entwerfen kann, die so nicht existent sind“. Zugleich könne Zeichnung auch „ephemere Prozesse und Dinge seismographisch und beschreibend aufspüren“.
Junge Leute sind an ökologischen Problemen interessiert
Zeichnen sei ihr zufolge Denken. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Handwerkliche keine Rolle spielt. „Das Auge in Verbindung mit Hand und Abbild ist auch heutzutage nicht komplett ersetzbar“, weiß Fecht aus ihrer Studienzeit, als sie parallel zur Berliner Universität der Künste auch Zeichenkurse für Archäologen am Winckelmann-Institut der Humboldt-Universität besuchte.
Diese mitunter widerstreitenden Zugänge zur Zeichnung – Beobachtung und Abstraktion, Handwerk und Analyse, Abbildung und Utopie – prägen Nadine Fechts künstlerisches Werk ebenso wie ihren Ansatz als Professorin. Sie betrachtet sie nicht als unvereinbare Gegensätze, sondern als sich potentiell ergänzende Facetten. „Das Wissen um die Tradition und die altmeisterliche Zeichnung bis hin zu dem erweiterten Zeichnungsbegriff“ – so umreißt Fecht ihre auf einer Kombination aus Reflexion und künstlerischer Praxis fußende Lehre.
Ihre Studenten möchte sie durch thematischen Input zur Entwicklung eigener zeichnerischer Ansätze anregen: „Ich lade unterschiedliche Lehrbeauftragte ein, die gemeinsam mit den Studierenden auf inhaltlicher Ebene Dinge erarbeiten.“ Im jetzigen Wintersemester soll es um die ökologische Problematik der Kipppunkte gehen. Sie werde Experten einladen, die mit ihrem Wissen zu einem „Grundlagenverständnis von ökologischen Problemen“ beitragen sollen: „Es ist ein Thema, das die jungen Leute beschäftigt.“
„Ich bin künstlerisch in Frankfurt sozialisiert“
Fecht versucht, ihre Studenten eng zu begleiten und im Blick zu behalten, was sie jeweils individuell antreibt. Unablässig halte sie Ausschau nach Dingen, die für ihre Studenten relevant sein könnten, sagt Fecht: „Dann kriegen die von mir auch E-Mails.“ „Jeden Einzelnen und jede Einzelne trage ich mit mir rum“, betont die seit April an der HfG lehrende Künstlerin. Und auch wenn sie individuell auf jeden einzelnen Studenten einzugehen versucht, erachtet Fecht einige Qualitäten für unverzichtbar: „Die Genauigkeit der Beobachtung und die Präzision der Übertragung in visuelle Phänomene“ – in sinnlich erfahrbare Kunstwerke also.
Dass die HfG eine eigene Professur für Zeichnung als autonomes künstlerisches Medium unterhält, ist laut Fecht „heutzutage eine ziemliche Besonderheit“. Außer Dresden und Stuttgart fallen ihr auf Anhieb keine vergleichbaren Lehrstühle an deutschen Kunsthochschulen ein. Von der HfG habe sie auch in Berlin immer wieder gehört: „Die Hochschule ist sehr umtriebig und sehr präsent.“ Die Rhein-Main-Region ist der gebürtigen Mannheimerin seit Langem vertraut. „Ich bin künstlerisch in Frankfurt sozialisiert“, sagt Fecht.
Als Jugendliche habe sie den Bau und die Eröffnung des Museums für Moderne Kunst (MMK) mitverfolgt – ebenso wie die vom damaligen MMK-Direktor Jean-Christophe Ammann vorgenommenen Neupräsentationen der Museumssammlung. Regelmäßig sei sie für Performances und Club-Nächte nach Frankfurt gekommen, erinnert sich Fecht: „Das war schon ziemlich Cutting Edge.“ Als innovativ und lebendig erlebt sie die Region und ihre Kunsthäuser auch heute: „Für mich ist es eine Freude gewesen, wieder hierher zurückzukommen.“
Das Semester wird auf Nachhaltigkeit ausgerichtet
Ihr Kunststudium begann Nadine Fecht Mitte der Neunzigerjahre in Karlsruhe, um dann nach Berlin zu ziehen. „Wo sind Bruchstellen, wo sind gesellschaftliche Reibungspunkte, die sich zeigen?“ – Die nach der Maueröffnung zunehmend wieder ins Zentrum rückende Spreemetropole erschien Fecht als passender Ort, um den für ihre Kunst zentralen Fragen nachzugehen. Offenbach, den für sie noch ziemlich neuen Wirkungsort, charakterisiert Fecht als „bunt, divers und vielgestaltig“. Diese Vielfalt bilde sich auch in den HfG-Studentenschaft ab: „Das ist besonders toll, und ich empfinde es als eine große Bereicherung.“
Dass die Präsidentin der HfG, Brigitte Franzen, nun ihren Wechsel an das Bauhaus Archiv angekündigt hat, bedaure sie, so Fecht. Andererseits freue sie sich über die stringente Besetzung des Postens. „Die Idee und Konzeption des Bauhaus und der HfG Offenbach haben in ihrer Verbindung von Design und Gesellschaft ja ohnehin viele Parallelen und Gemeinsamkeiten, das passt also.“ Franzen sei jemand, der den „übersehenen oder ignorierten weiblichen Anteil an der Geschichte und des Erfolges des Bauhaus ins Licht und in Fokus setzt“.
Ihr erstes Semester als HfG-Professorin beschloss Fecht mit dem traditionellen „Rundgang“, an dem auch der neu eingerichtete Zeichensaal für Besucher geöffnet war. Jetzt wird sich das Semester in der gesamten Hochschule auf das Thema „Nachhaltigkeit“ ausrichten. In der sich verschärfenden ökologischen Krise will Nadine Fecht nicht mit Resignation, sondern mit der von ihr propagierten Suche nach Konzepten begegnen. Auf die Frage, wie sie aussehen könnten, hat Fecht eine klare Antwort: „Mit Zeichnung kann man sie entwerfen.“
