„Wladimir Putin ist überzeugt, dass er diesen Krieg gewinnt“, sagt Katja Gloger gleich zu Beginn. Die Journalistin, die als Stern-Korrespondentin in Moskau den Zerfall der Sowjetunion miterlebte, erklärt, dass Putin nicht nur die Ukraine, sondern auch die europäische Sicherheitsordnung nach russischen Bedingungen neu formen wolle.
Vom Freiheitsrausch zur Ideologie der „russischen Zivilisation“
Neben ihr sitzt Andrey Gurkov, russischer Journalist, der in den 1990er-Jahren in Moskau lebte. „Es war eine berauschende Zeit“, sagt er, „das Ende der Sowjetunion – eine Revolution. Danach kam Euphorie, das Gefühl, im freiesten Land der Welt zu leben.“ Man wollte „nach Europa, dorthin, wo wir historisch hingehören“. Drei Jahrzehnte später klingt das wie eine ferne Erinnerung. Heute, sagt Gurkov, propagiere der Kreml, Russland sei eine „eigene Zivilisation“ – eine, für die westliche Werte nicht gelten. Diese Erzählung, so Gurkov, sei inzwischen tief in den Köpfen der russischen Bevölkerung verankert.
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Moderator Markus Lanz zeigt sich neugierig wie selten, man bekommt unwillkürlich das Bild eines fleißigen, wissbegierien Schülers in den Kopf. „Wir waren ja voller Hoffnung“, sagt er, und wendet sich an Georg Mascolo, der gemeinsam mit Gloger das Buch „Das Versagen“ geschrieben hat. Mascolo antwortet: „Dass da etwas schiefgegangen ist, wissen wir alle seit dem 24. Februar 2022. Aber warum es schiefgegangen ist, darüber wissen wir erstaunlich wenig.“
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Putins Aufstieg und die frühen Warnungen, die keiner hören wollte
Die Runde reist zurück ins Jahr 2000, als Putin sein Amt antrat – mit den Worten, Meinungsfreiheit und Eigentum seien „verlässlich geschützt“. Mascolo beschreibt, wie früh Warnungen über Putins Charakter ignoriert wurden. Schon 2000 habe ein Berater von Kanzler Schröder über ihn geschrieben: „Ein harter, kalter, entschlossener Operateur, mit dem möchte man nicht befreundet sein.“ Lanz hakt nach: „Warum wollte das keiner wissen?“ – „Weil es an Sensibilität fehlte“, sagt Mascolo. „Man sah den KGB-Mann und hoffte trotzdem auf den Demokraten.“
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Gloger erinnert an ihre Begegnungen mit dem frühen Putin. Da seien sie in seinem Büro gewesen, und sie habe ihn gebeten, ein Foto mit Selbstauslöser zu machen. Über mehrere Monate begleitete sie Putin für ein großes Porträt. Er präsentierte sich als „ein Mann, der sich sehr bescheiden gegeben hat. Ein Mann, der in der Rolle des Lernenden war“, beschreibt sie ihre Eindrücke. „Der russische Präsident, der sein Land in Richtung Demokratie führen möchte.“
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Gerhard Schröder und der Traum vom europäischen Russland
Sie erzählt von langen Abenden zwischen den Ehepaaren Schröder und Putin, von Ideen, wie man eine russische Mittelschicht aufbauen könne. „Die Hoffnung war, dass Russland ein normales europäisches Land werden könnte.“ Doch Mascolo stellt klar: Der deutsche Geheimdienst habe schon damals gewarnt. „Das Tragische ist, dass Schröder dachte, er wisse es besser.“ Mit dieser Selbstsicherheit habe er das Verhältnis zu Russland zur Chefsache gemacht.
Ein zentrales Symbol dieser Fehleinschätzung ist Putins Rede im Deutschen Bundestag 2001. Gloger erinnert: Putin durfte nur sprechen, wenn er einen Teil der Rede auf Deutsch hielt – und sich im Auswärtigen Ausschuss Fragen stellte. „Eine große Ausnahme“, sagt sie. „Am Ende entschied der Kanzler selbst, dass Putin reden darf.“ Standing Ovations folgten, besonders für den Satz: „Russland ist ein freundliches europäisches Land.“
Litwinenko, der KGB und die Rückkehr der Gewaltpolitik
Doch hinter verschlossenen Türen zeigte Putin ein anderes Gesicht. Mascolo erzählt, wie der damalige CDU-Politiker Friedrich Merz im Ausschuss nach Tschetschenien fragte – dort herrschte zu der Zeit grausamer Krieg – und Putin in einer Härte antwortete, gegen die „unzulässigen Ausweitungspläne der NATO“. Mascolo sagt: „Da ging es nicht um Kant und Schiller. Da ging es um Macht.“
Bei Lanz wird beleuchtet, wie früh Gewalt wieder Teil der russischen Politik wurde. Gurkov erinnert an den Mord am Ex-Agenten Alexander Litwinenko – vergiftet mit Polonium, „einer Massenvernichtungswaffe“. Mascolo nennt ihn einen Wendepunkt: „Dass im Ausland gemordet wird, gab es zuletzt im Kalten Krieg.“ Schon der ehemalige Bürgerrechtler Werner Schulz habe damals gesagt, so Mascolo, „man hat Putin gefeiert wie ein Enkel von Gorbatschow und nicht gesehen, dass es sich bei ihm um den Ziehsohn des KGB handelt“.
Olaf Scholz und die Lüge vor dem Ukraine-Krieg
Zwei Jahrzehnte später, erzählt Mascolo, habe Putin Kanzler Scholz belogen – beim letzten Telefonat vor dem Angriff auf die Ukraine. „Er sagt, die Truppen stünden noch im Feld, aber würden bald abziehen. In Wahrheit war die Entscheidung längst gefallen.“
„Dieser Krieg hat Russland endgültig von Europa abgeschnitten“, sagt Gurkov zum Schluss. Ein Satz, der leise fällt, aber nachhallt. Denn er meint nicht nur Russland – sondern auch ein Europa, das lange weggesehen hat.
