Merz auf dem Gewerkschaftstag: Jenseits der sozialen Marktwirtschaft

Hätte in dieser Woche nicht die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) ih­ren Bundeskongress abgehalten, sondern vielleicht Verdi, dann wäre Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) als Gastredner dort wahrscheinlich ausgepfiffen worden – falls man ihn überhaupt herein­gelassen hätte. Schließlich ist er ein böser, reicher Mann, der soziale Kälte in Deutschland verbreitet, der Bürgergeldbezieher zu Obdachlosen machen will und jetzt auch noch einen Satz mit „Stadtbild“ formuliert hat.

Ungefähr das ist das Weltbild, in dem sich viele Gewerkschafter bewegen. Und für jene, deren Interesse sich ganz auf die Vergrößerung des Staatswesens richtet, gibt es auf öffentlicher Bühne wenig mit „so einem“ zu reden.

Industriegewerkschaften heben sich davon etwas ab, da sie die Maschinenräume der industriellen Wertschöpfung vor Augen haben, in denen es seit mehr als fünf Jahren gar nicht mehr gut läuft. Außerdem ist besonders die IG BCE eine gesittete Organisation. Ihr Markenzeichen ist sozialpartnerschaftlicher Ausgleich, dem Klassenkampf hat sie lange abgeschworen.

Eine Strukturkrise historischen Ausmaßes

Dass Merz von ihr mit einigem Interesse empfangen wurde, hat aber Gründe: Unter dem Druck einer allzu realitätsfernen Energie- und Klimapolitik ist die Industrie in eine Strukturkrise historischen Ausmaßes geraten – und in eine Abhängigkeit von Staat und Politik, die es in der Sozialen Marktwirtschaft noch nicht gab.

Inwieweit Deutschland Produktionsstandort für industrielle Grundstoffe bleibt, für Chemie und Stahl, hängt immer weniger von Unternehmensstrategien und allgemeinen Wirtschaftsbedingungen ab. Auf dem gegebenen Niveau der Energiekosten sowie der Klima- und Umweltregularien wird das in Berlin und Brüssel gesteuert; und strahlt zudem auf das ganze verarbeitende Gewerbe aus.

Vielen Unternehmen fehlt unter den politisch herbeigeführten Bedingungen eine plausible Perspektive für die hiesigen Standorte. Und der einzige – vielleicht – begehbare Ausweg ist ein Transformationspfad, der politisch gesteuert wird. Zum Beispiel: Wann und wie steht benötigter Wasserstoff zur Verfügung? Welche Puffer gibt es, wenn das nicht klappt? Wie werden Einfuhrverbote für Güter aus weniger klimafreundlicher Produktion in anderen Ländern gestaltet, ohne die heimische Produkte selbst im Binnenmarkt nicht mehr absetzbar wären?

Unternehmerische und politische Verantwortung vermischen sich

Jenseits aller Fachfragen vollzieht sich damit eine Klimaveränderung zulasten der marktwirtschaftlichen Ordnung. Unternehmerische und politische Verantwortung vermischen sich auf diesem Pfad – wohin so etwas führen kann, zeigt die Deutsche Bahn. Zugleich verzerrt es den Bezugsrahmen von Sozialpartnerschaft und Tarifpolitik. Das ist eine weitere Dimension des Wandels, die mehr Aufmerksamkeit verdient.

Wie viel Verfügungsmasse in Lohnrunden zu verteilen ist, darüber entscheiden in so einer Mischwirtschaft immer weniger die Geschicke der Un­ternehmen und die Fähigkeiten der Tarifparteien. Wirtschafts- und Gewerkschaftsvertreter agieren Hand in Hand als Branchenlobbyisten, da die zentralen Stellhebel politisch zu bedienen sind. Und mit jeder weiteren Regulierung, jeder weiteren Milliarde aus Steuer- und Schuldentöpfen, mischt sich die Regierung tiefer in die Verantwortung der Sozialpartner ein.

Für die Industriegewerkschaften ist diese Krise zwar insofern unschön, als ihre Mitglieder darunter leiden. Davon abgesehen steigert sie jedoch ihre politische Bedeutung und ihr Selbstbewusstsein. Könnte die Regierung mit irgendeinem Industrie-, Auto- oder Stahlgipfel ihre Handlungsfähigkeit demonstrieren, wenn dort Spitzengewerkschafter fehlen würden?

Das politische Spitzenpersonal aber muss umso mehr aufpassen, dass es gesamtwirtschaftliche Belange nicht ganz aus dem Blick verliert. Denn dieselben Gewerkschaften, die um die Gipfel herum Alarmtöne senden, auch die IG BCE, fordern zugleich ungerührt mehrstellige Milliardenbeträge, um den Anstieg von Facharbeiterrenten zu beschleunigen; wettern gegen jede Idee einer Begrenzung von Sozialabgaben; bekämpfen erbittert jede Flexibilisierung von Arbeitszeitvorschriften. Und jammern dann noch über fehlendes Geld, das natürlich per Vermögensteuer einzutreiben sei.

Für Kanzler Merz ist all das knifflig, da sich sein Koalitionspartner SPD als Sachwalter der Gewerkschaften versteht. Soweit es gemeinsame Wege zu einer realistischen Energie- und Klimapolitik gibt, liegt es nahe, sie zu nutzen. Eine Wende zu nachhaltigem Wachstum erfordert aber wohl andere Wege als den austarierten Konsens. Die von der Union später gelobten Agenda-Reformen der Regierung Schröder waren eine bewusste Abkehr davon. Der damalige Kanzler setzte stattdessen sein Amt dafür aufs Spiel.

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