Faktenlage zu Kriminalität
Merz und der „Stadtbild“-Streit: Haben unsere „Töchter“ wirklich Grund zur Angst?
Merz polarisiert beim Thema „Stadtbild“, einige finden den Kanzler rassistisch, andere pflichten ihm bei. Was sagen die Fakten?
Berlin – Hat Deutschland ein Problem im „Stadtbild“ – und können vor allem die „Töchter“ ein Lied davon singen? Darüber streitet das Land, seitdem Kanzler Friedrich Merz (CDU) davon sprach, man wolle mehr Rückführungen von Migranten ermöglichen, weil man ein Problem im „Stadtbild“ habe.
Wie aber gestaltet sich die Realität in deutschen Städten? Sind Frauen im öffentlichen Raum tatsächlich bedroht? Und wenn ja, hat dies etwas mit Migration zu tun? Ein Blick auf die Zahlen zeigt: Der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund innerhalb der deutschen Bevölkerung steigt. Seit Jahrzehnten ist die Zahl der Zuzüge nach Deutschland höher als die der Wegzüge. Zur Zeit der Flüchtlingskrise 2015 und mit Ausbruch des Ukraine-Kriegs 2021 stieg die Zuwanderung besonders stark an.
Vor allem in Großstädten ist laut Demografieportal der Bundesregierung der Ausländeranteil hoch. Den höchsten Wert hat die hessische Stadt Offenbach am Main, kurz danach folgt das benachbarte Frankfurt am Main. Auch beim Migrationsanteil ist Offenbach mit 66,5 Prozent Spitzenreiter. Besonders gering ist der Migrationsanteil im Osten Deutschlands – ausgerechnet dort, wo die besonders migrationskritisch AfD Rekord-Umfragewerte erreicht.
Doch Merz meint offensichtlich nicht Migranten allgemein mit seiner „Stadtbild“-Aussage. Der Kanzler wendet sich nicht gegen Zuwanderer per se, wie er immer wieder betont. Am Montag (20. Oktober) sagte er beim Gewerkschaftskongress in Hannover, dass Deutschland reguläre Zuwanderer wolle und brauche. Mit seiner „Stadtbild“-Äußerung ging es Merz stattdessen um Asylbewerber, die Deutschland eigentlich verlassen müssten. Rückführungen von abgelehnten Asylbewerbern, auch nach Syrien und Afghanistan, sollen nach Merz‘ Logik das Problem lindern.
Wie finden Sie Merz‘ Äußerungen zum „Stadtbild“: Stimmen Sie ab!
Ist das aber wirklich das Problem? Welche Auswirkungen der Zustrom von Asylbewerbern auf die Kriminalitätslage in Deutschland hat, zeigt ein Lagebericht des Bundeskriminalamts aus dem Jahr 2023 (spätere Zahlen liegen noch nicht vor). Die Analyse zeigt einen deutlichen Anstieg der Zahl tatverdächtiger Zuwanderer und von Straftaten mit ihrer Beteiligung im Vergleich zu 2022. Die Zuwächse an tatverdächtigen Migranten übersteigt dabei die allgemeine Kriminalitätsentwicklung.
Starke Anstiege bei tatverdächtigen Migranten gebe es vor allem bei Diebstahl, Fälschungen, Körperverletzungen, Nötigung und Bedrohung, heißt es im Bericht. Allerdings: Zuwanderer werden laut dem Lagebericht auch häufiger Opfer von Straftaten. Weit vorne lägen sowohl bei den Opfern als auch bei den Tatverdächtigen Syrer, Ukrainer und Afghanen.
Kriminalitätsstatistiken werfen anderes Bild auf „Stadtbild“-Aussage von Merz
Auf eine erhöhte Kriminalitätsneigung von Menschen mit Migrationshintergrund ist der Zusammenhang jedoch nicht zurückzuführen. Das geht aus einer Ifo-Studie hervor, die die polizeilichen Kriminalstatistiken von 2018 bis 2023 analysiert hat.
Zwar seien Ausländer in der Statistik stärker vertreten, jedoch liege dies daran, dass sie häufiger in Ballungsräumen mit generell höherer Kriminalitätsdichte lebten. Auch andere ortsspezifische Indikatoren spielten eine Rolle. Das bedeutet übersetzt auf die aktuelle „Stadtbild“-Debatte: Wenn Menschen, vor allem Frauen, sich im „Stadtbild“ unsicher fühlen, hängt das womöglich mit den Gegenden zusammen, in denen sie sich aufhalten. Denn: Laut der Ifo-Studie haben Veränderungen im Ausländeranteil keine systematische Auswirkung auf die lokale Kriminalitätsrate.
Müssen „Töchter“ in den Städten Angst haben? Hälfte der Frauen meidet bestimmte Orte
Zuletzt die Frage: Sind es speziell „Töchter“, also junge Frauen, die sich in den deutschen Städten unsicher fühlen? Zahlen dazu liefert das BKA in einer Studie zur Kriminalitätsfurcht. Frauen würden deutlich häufiger als Männer ihr Verhalten anpassen, um sich vor Kriminalität zu schützen, heißt es darin. Im Alltag fühlten sie sich deutlich häufiger unsicher und bedroht.
Über die Hälfte der Frauen würde aus Furcht vor Kriminalität auf die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel verzichten, genauso viele würden bestimmte Plätze und Straßen meiden. Allerdings: Ein Zusammenhang zum Migrationsanteil wird in dieser Studie nicht untersucht. Und die Untersuchung zeigte, dass auch Menschen mit Migrationshintergrund häufiger Angst haben, Opfer zu werden als solche ohne.
Sozialwissenschaftlerin Julia Habermann von der Ruhr-Universität in Bochum forscht seit langem zum Thema Gewalt gegen Frauen. Zu Sabo.de von Ippen.Media sagte sie, dass für das Sicherheitsempfinden von Frauen im öffentlichen Raum unter anderem „die verbale sexuelle Belästigung, also Hinterherpfeifen, anzügliche Bemerkungen et cetera“ eine Rolle spielten. Es sei aber unzulässig, dafür „insbesondere als fremd gelesene Männer verantwortlich zu machen“. Habermann würde sich in der aktuellen „Stadtbild“-Debatte wünschen, „dass die Sicherheit von Frauen unabhängig von der Migrationspolitik diskutiert wird“.
Merz sieht Problem im „Stadtbild“ für „Töchter“ – Protest, aber auch Zustimmung
Gegen Merz‘ Aussagen gibt es massiven Widerspruch und Protest. Sogar wegen Volksverhetzung wurde der Kanzler jetzt angezeigt. Viele empfinden seine Aussagen als fremdenfeindlich, darunter tausende Protestanten, die Luisa Neubauer am Dienstag (21. Oktober) vor dem Kanzleramt zusammentrommelte.
Was er genau damit meinte, wollte der Kanzler vor Journalisten nicht näher erklären – man könne aber „Töchter“ nach ihren Erfahrungen fragen. Der CDU-Chef legt damit nahe, dass sich junge Frauen im öffentlichen Raum nicht mehr sicher fühlen. Und seine Lösung dafür lautet: mehr Abschiebungen von Asylbewerbern.
Manche bestärken den Kanzler aber auch. Unter anderem der türkischstämmige Grünen-Politiker Cem Özdemir, der Ministerpräsident in Baden-Württemberg werden will. Es sei „völlig klar“, dass es nicht sein könne, dass man „so ein Problem nicht adressiert“, so Özdemir zur Bild. Schließlich herrsche Umfragen zufolge eine große Verunsicherung im öffentlichen Raum.
Özdemir hatte in der Vergangenheit selbst in einem Gastbeitrag in der FAZ sexualisierte Gewalt angeprangert, die seine Tochter von migrantischen Männern erfahre. Auch Boris Palmer (parteilos) sprang dem Kanzler in der hitzigen Stadtbild-Debatte unterstützend bei.
Merz tritt in Migrations-Debatte forsch auf – hilft er so der AfD?
Die Autoren der oben genannten Ifo-Studie schlagen einige Maßnahmen vor, mit denen sich die Kriminalitätsneigung von Ausländern senken lasse. Dazu gehören Sprachkurse, Vermeidung von Beschäftigungsverboten und eine bessere regionale Verteilung von Asylbewerbern. Zudem sollten „Fehlwahrnehmungen“ beim Thema Migration abgebaut werden – auch durch sprachliche Sensibilität.
Gerade von sprachlicher Sensibilität will Merz aber in der aktuellen Debatte nichts wissen: Wie auch schon bei vorhergehenden Diskussionen, als Merz etwa von „kleinen Paschas“ unter Migranten sprach, greift der Kanzler lieber zu forschen Worten, die seiner Meinung nach das Gefühl vieler Menschen widerspiegeln. Ob er damit Wähler von der AfD zur Union zurückholen kann, oder aber der AfD gerade den Weg bereitet, wird die Zukunft zeigen. (Quellen: eigene Rercherche, Ifo-Institut, Bundeskriminalamt, Demografieinstitut, Bild, FAZ)
