Handelsstreit
„Mit Kleinstaaterei haben wir schon verloren“
Ökonomin Doris Fischer über Chinas Wirtschaftssystem, Halbleiter als geopolitisches Druckmittel und Deutschlands Abhängigkeit. Ein Interview.
Chinas wirtschaftlicher Aufstieg ist beispiellos. Lange war es die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft der Welt. Zwischen 1978 und 2005 lag die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate bei zehn Prozent. Vergangenes Jahr wuchs die chinesische Wirtschaft noch um fünf Prozent.
Frau Fischer, viele westliche Beobachterinnen und Beobachter sehen in Chinas Industriepolitik der letzten Jahre eine Abkehr vom Exportmodell hin zu wirtschaftlicher Autarkie. Beobachten Sie das auch?
Es hat definitiv einen Schwenk gegeben, allerdings gibt es beide Strömungen. China folgt dem Modell der Dual Circulation (Anm. d. Red.: Zweikreislaufwirtschaft), das 2020 erstmals in einer Sitzung des Politbüros vorgestellt wurde. Die Wirtschaft wird dabei in einen internen Kreislauf, den Binnenkonsum, und einen externen Kreislauf, also internationalen Handel, unterteilt.
Was heißt das konkret?
China will weiterhin Wachstum – und ohne globalen Handel geht das nicht. Deshalb will China weiterhin stark exportieren und den eigenen Markt so attraktiv wie möglich für ausländische Firmen machen. Es geht also nicht um reine Autarkie. Allerdings gibt es durchaus einen Strategiewechsel, denn der interne Kreislauf wird im chinesischen Modell priorisiert, weil die Abhängigkeit tatsächlich reduziert werden soll. Es geht der chinesischen Regierung darum, im Krisenfall, also wenn die USA beispielsweise den Zugang zu Ressourcen oder Technologien beschränken, was ja im Falle der Halbleiter zum Beispiel versucht wird, zur Not auch autark wirtschaften zu können.
Als geopolitisches Druckmittel sozusagen?
Ja, als Rückfallposition. Die Partei hat das als Notwendigkeit erkannt, da sie sich sicher ist, dass die USA alles dafür tun würde, China nicht groß werden zu lassen. Man folgt der Logik: Würde man der USA durch Abhängigkeit in verschiedenen Bereichen also die Möglichkeit geben, Chinas Wachstum zu stoppen, würden die USA diese ergreifen.
Gleichzeitig versucht China selbst Abhängigkeiten zu produzieren. China baut etwa 70 Prozent der Seltenen Erden weltweit ab und verarbeitet sogar noch mehr – nämlich etwa 90 Prozent. Das ist eine ganze Menge. Wie kam es dazu?
Deng Xiaoping (Anm. d. Red.: Chinas Machthaber von 1979 bis 1997) soll schon 1987 gesagt haben, dass Seltene Erden für China das sein würden, was für andere Staaten das Öl ist. Zweifelsfrei überliefert ist die Aussage nicht. Sie zeigt jedoch, wie früh China das Potenzial erkannt hat. Der Abbau und die Verarbeitung dieser Seltenen Erden ist erstens eine extrem dreckige Industrie und bedarf zweitens sehr hoher Investitionen. Insofern ist das international eben auch gerne gesehen worden, dass diese Drecksarbeit woanders gemacht wurde. Die chinesische Regierung und die Unternehmen haben das angenommen und sich zunehmend darauf spezialisiert.
Zur Person
Doris Fischer ist Professorin für China Business und Economics an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Sie hat Sinologie und Betriebswirtschaftslehre studiert und in Volkswirtschaftslehre promoviert. Sie forscht intensiv zu Chinas Wirtschafts- und Industriepolitik. FR

Was für andere Länder nun zum Problem wird…
Andere Länder, die diese Industrie nun aufbauen wollen, müssen zunächst viel Geld investieren – und es dauert eben lange, bis eine Industrie funktioniert. China hat da einen enormen Vorsprung. In gewisser Weise sind die USA und Europa hier erpressbar.
China nutzt dieses Druckmittel bereits: Im Juli 2023 hat China Exportkontrollen für Gallium und Germanium eingeführt. Ab Dezember 2024 den Export in die USA komplett verboten. Beide Rohstoffe sind wichtig für die Chipproduktion.
Ja, wir sehen, dass die chinesische Regierung für gewisse Seltene Erden ein Exportlizenzsystem eingeführt hat. Damit kann die Regierung US-Unternehmen und europäische Unternehmen in Bedrängnis bringen. Beispielsweise kann man dadurch prüfen, wofür diese Seltenen Erden genutzt werden. Sieht man etwa, dass sie militärisch genutzt werden sollen, kann der Export verweigert werden.
Seltene Erden
Insgesamt 17 metallische Elemente werden als Seltene Erden bezeichnet. Dazu zählen unter anderem Neodym, Praseodym und Dysprosium. Wichtig sind sie, weil sie unverzichtbar für die Herstellung von Hochleistungshalbleitern sind. Die wiederum werden in Smartphones und Elektroautos verbaut und für datenintensive KI-Anwendungen benötigt.
Wirklich selten sind Seltene Erden interessanterweise nicht. Neodym zum Beispiel (häufig in E-Autos verbaut) kommt laut der Deutschen Rohstoffagentur weltweit häufiger vor als Blei. Allerdings müssen die Metalle in einem komplizierten Verfahren aus den Erzschichten der Erdkruste gelöst werden.
Ein gefährlicher Prozess, vor allem für die Umwelt. Unter anderem können radioaktiv belastete Rückstände bei der Gewinnung und Aufbereitung Seltener Erden entstehen. Zudem kann es zu Verunreinigungen des Trinkwassers kommen. flo
Die Bundesregierung hat 2023 mit einer China-Strategie auf diese und andere Abhängigkeiten reagiert. Stichwort: „Derisking“. Was ist seitdem passiert?
Diese Strategie, das muss ich ehrlich sagen, halte ich nicht für eine wirkliche Strategie. Es gibt ja ein Grundproblem: Die deutsche Bundesregierung kann deutschen Unternehmen kaum vorschreiben, wo sie investieren oder mit wem sie handeln, solange es sich nicht um militärische Güter handelt. Die Möglichkeiten der Bundesregierung sind dadurch begrenzt.
Fatalismus ist aber auch keine Option. Wo gibt es denn Handlungsspielräume?
Sie können Anreize schaffen und das versucht man auch. Vielmehr steht in der Strategie aber nicht. Man setzt sich mit Konzernen zusammen, um deren Sorgen zu verstehen und irgendwie zu einer einheitlichen Linie zu kommen. Untersuchungen deuten aber darauf hin, dass die Investitionen deutscher Firmen in China bisher nicht eingebrochen sind und die Importe aus China eher steigen.
Haben Deutschland und die EU einen systemischen Nachteil?
Das ist die große, vieldiskutierte Frage. Es könnte auch ein Vorteil sein, denn es ist aus berechtigten Gründen fraglich, wie lange das chinesische System so noch funktionieren kann. Traditionell gehen die meisten Ökonomen und Ökonominnen davon aus, dass so ein System der Subventionierung und Industriepolitik eigentlich ineffizient ist. Es ist zwar kein planwirtschaftliches Modell mehr, aber eines, in dem Tausende Instrumente staatlich lenken oder unterstützen. Ein dauerhafter Erfolg der chinesischen Wirtschaft fordert also auch unsere ökonomische Erfahrung und Theorie heraus.
Und was, wenn diese Überzeugung mittlerweile überholt ist?
Wenn das so ist, müssten wir uns eigentlich neu aufstellen. Allerdings kann man das chinesische System nicht einfach kopieren, ohne unsere Überzeugungen und Werte über den Haufen zu werfen. Das ist ein Dilemma, und es sind so komplexe und große Fragen, auf die auch die Empirie keine eindeutige Antwort gibt.
Haben Sie zumindest einen Vorschlag?
Natürlich keinen, der die Lösung bringt, allerdings bin ich sehr dafür, einen wirklichen, tiefgreifenden europäischen Dialog zu schaffen über die strategischen Ziele der EU. Zu welchem Ergebnis man dann kommt, ist offen. Allerdings sollten wir uns im Klaren sein, dass diese immer wieder hochspülenden nationalen Egoismen in der EU auch wirtschaftlich ein sehr großes Problem sind.
Haben Sie ein Beispiel dafür, was in einem solchen Dialog geändert werden könnte?
Na ja, nehmen wir das Beispiel Steuergeld. Wir haben nationale Steuersysteme und nationale soziale Sicherungssysteme. Die Gelder werden dementsprechend zuvorderst für nationale Projekte ausgeben. Das hilft uns mit Blick auf unsere strategische Konkurrenz wenig. Das zu ändern, ist natürlich nicht realistisch. Andererseits ist selbst Deutschland allein zu klein, wir brauchen kollektive Prozesse. Mit Kleinstaaterei haben wir in einer multipolaren Welt schon verloren.
