Als Anfang vergangener Woche bekannt wurde, dass Union und SPD erwägen, über die Einladung zur Musterung und einen anschließend verpflichtenden Wehrdienst das Los entscheiden zu lassen, war die Empörung groß. Neben anderen meldete sich der Vorsitzende der Linken, Jan van Aken, zu Wort: „Ich bin davon überzeugt, dass Zwangsdienste grundsätzlich nicht in Ordnung sind“, sagte er. „Deshalb bin ich gegen jede Wehrpflicht.“ Dann fuhr der Bundestagsabgeordnete fort: „Es ist makaber, über Losverfahren zu entscheiden, wer zur Armee muss. Es ist praktisch russisch Roulette: Wer Pech hat, muss in den Krieg, muss sterben.“
Er berührte damit einen wunden Punkt. Denn in vielen Familien wird das Thema Wehrdienst jetzt heiß diskutiert. Beratungsstellen für Kriegsdienstverweigerer melden, dass immer mehr Mütter und Väter anrufen, um sich nach den Gefahren für ihre Söhne und Töchter zu erkundigen. Da macht sich augenscheinlich eine wachsende Angst breit. Van Akens Feststellung, „die Alten schicken die Jungen in den Krieg“, ist trotzdem zweifelhaft.
Recht auf Kriegsdienstverweigerung
Da ist zunächst das Grundgesetz. Zwar heißt es dort in Artikel 12a Absatz 1: „Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden.“ In Artikel 4 Absatz 3 steht jedoch: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“ Kathrin Groh, Professorin für Öffentliches Recht an der Universität der Bundeswehr in München, stellte dazu im „Verfassungsblog“ fest, dieses Grundrecht sei „auf den Kriegsfall zugeschnitten. Sein unantastbarer Kernbereich verlangt gerade für den Verteidigungsfall uneingeschränkte Geltung.“ Verweigern kann man also immer.
Frauen sind von der Wehrpflicht ohnehin ausgenommen. Das ließe sich bloß mithilfe einer Grundgesetzänderung korrigieren. Dafür wiederum wäre eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat nötig. Diese würde spätestens an der Partei scheitern, der van Aken vorsitzt: der Linken. Außerdem streben derzeit weder die Union noch die SPD eine Grundgesetzänderung an.
Der Wehrdienst ist zu kurz, um zu kämpfen
Der Wehrdienst soll sechs Monate dauern. Und er würde nur verlängert für jene, die das selbst wünschen. Unter Verteidigungsexperten im Bundestag heißt es, nach sechs Monaten sei man vielleicht in der Lage, zum Schutz der Infrastruktur in der Heimat beizutragen – aber sicher nicht zum Kampf an der Front.
Der Militärhistoriker Sönke Neitzel von der Universität Potsdam sagte dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND), im Kalten Krieg hätten Wehrpflichtige kämpfen müssen. Er schränkte indes gemünzt auf die Gegenwart ein: „Wenn es eine Wehrpflicht gibt, dann wird es eine Auswahlwehrpflicht sein, weil wir ganze Jahrgänge als Wehrpflichtige gar nicht gebrauchen könnten. Im Übrigen würden die Wehrdienstleistenden, wie es zurzeit geplant ist, nicht ins Feldheer geschickt, also potenziell an die Front, sondern ins Territorialheer und dort zum Beispiel die Rheinbrücken in Koblenz schützen. Nach einer Dienstzeit von nur sechs Monaten wären sie im Feldheer gar nicht sinnvoll zu verwenden.“
Neitzel plädiert deshalb dafür, „die Soldaten mindestens ein Jahr dienen zu lassen. Wir brauchen Wehrpflichtige, die so ausgebildet sind, dass sie auch an der Ostflanke eingesetzt werden könnten.“ Danach sieht es aber nicht aus. Ein wesentliches Ziel von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) besteht vielmehr darin, mithilfe des Wehrdienstes die Zahl der Reservisten zu erhöhen.
An die Front kämen Zeit- und Berufssoldaten
An die Front kämen die zuletzt 113.000 Zeit- sowie rund 58.000 Berufssoldaten. Doch auch hier nicht alle, sondern vor allem jene aus den Kampfverbänden vorzugsweise des Heeres. Fachleute sagen, tatsächlich kampffähig sei allenfalls die Hälfte der 180.000-köpfigen Truppe. Manche meinen, es seien noch weniger, nämlich 50.000 Mann. Wehrdienstleistende zählen nicht dazu.
Auch nicht in der Ukraine
Ganz junge Männer sind sogar in der Ukraine außen vor. Die Regierungschefin des Landes, Julia Swyrydenko, teilte noch im August mit: „Männer im Alter zwischen 18 und 22 können während des Kriegszustands ungehindert die Grenze überschreiten.“ Zum Einsatz an der Front selbst dürfen laut Gesetz allein Männer ab 25 Jahren verpflichtet werden. Jüngere können sich freiwillig melden. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass die Ukraine seit über drei Jahren militärisch mit dem Rücken an der Wand steht und neben Waffen vor allem eines dringend braucht: Soldaten.
Fazit
Sicher, niemand weiß heute, was ein Krieg nach einem mutmaßlichen Angriff Russlands konkret bedeuten würde. Schon der berühmte Militärtheoretiker Carl von Clausewitz schrieb: „Der Krieg ist das Gebiet der Ungewissheit.“ Er sprach vom „Nebel des Krieges”. Aber die Vorstellung, dass Wehrdienstleistende im Ernstfall direkt „in den Krieg“ geschickt würden und dort „sterben“ müssten, wie van Aken sagt, scheint bei allen Unwägbarkeiten ziemlich übertrieben.
