Mysteriöse Funde in den Alpen: Gletscher geben verborgene Welten frei

In den Schweizer Alpen stoßen Wanderer und Bergsteiger*innen immer häufiger auf rätselhafte archäologische Funde – und stellen die Forschung damit vor neue Rätsel. Durch das Abschmelzen der Gletscher kommen plötzlich Artefakte aus der Eisenzeit, der Römerzeit und sogar dem Mittelalter zum Vorschein. Diese einst verlorenen oder bewusst zurückgelassenen Objekte eröffnen überraschende Einblicke in das Leben vergangener Zivilisationen.

Archäologische Funde im Gletschereis

In der Schweiz, dem gletscherreichsten Land Europas mit fast 1.400 Gletschern (laut Akademie der Naturwissenschaften Schweiz), schreitet der Gletscherrückgang aufgrund steigender Temperaturen rasch voran. In den Jahren 2022 und 2023 verlor das Land laut der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT) rund zehn Prozent seines gesamten Gletschervolumens, im Hydrologiejahr 2024/25 kamen erneut etwa drei Prozent hinzu. Insgesamt sind seit 2015 etwa 25 Prozent des Eisvolumens verschwunden. Dabei tauchen einzigartige Artefakte auf, die oft von ihren Finder*innen als Andenken behalten werden.

Im Jahr 1999 wurde etwa eine hölzerne Statuette vom Col Collon von zwei Bergsteigern im Schmelzwasser des Haut Glacier d’Arolla entdeckt:

Sie nahmen das Objekt mit nach Hause, trockneten es und hängten es – ohne sein archäologisches Potenzial zu erkennen – als Dekoration an die Wohnzimmerwand in Turin. Über fast 20 Jahre hinweg behandelte man die Figur sogar regelmäßig mit Wachs und Anti-Staub-Spray, wodurch ihr ursprünglicher Zustand weiter verfälscht wurde. Erst 2018 gelangte sie durch einen Zufall erneut in den Blick von Fachleuten, die sie schließlich als eisenzeitliches Relikt identifizieren und dem Geschichtsmuseum Wallis übergeben konnten, so ein Artikel im Archäologischen Korrespondenzblatt.

Archäolog*innen sammeln und untersuchen diese auftauchenden Artefakte in der Stadt Sitten (frz. Sion). Sie liegt im Kanton Wallis im Südwesten der Schweiz. Das Geschichtsmuseum, auf einem steilen Hügel im Stadtzentrum gelegen, hat seine archäologischen Funde sogar in einer Wanderausstellung gezeigt. In einem separaten Archivgebäude bewahren Forschende Artefakte auf und analysieren sie, viele davon in einem riesigen Gefrierschrank zur Konservierung.

Entdeckungen aus schmelzenden Gletschern bieten Einblicke in die Menschheitsgeschichte und antike Wirtschaften – allerdings nicht ganz problemlos. „Es ist eine der Schwierigkeiten der Gletscherarchäologie, dass wir diese Objekte im Eis und damit außerhalb jedes archäologischen Kontextes finden“, zitiert Business Insider den Museumskurator Pierre-Yves Nicod. Er war es auch, der 2018 die hölzerne Statuette in die Hände bekam.

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Der Wanderer unter dem Eismeer

Der Mangel an Kontextinformationen wie Strukturen oder anderen Objekten erschwert die Interpretation der Artefakte. Forschende wie Nicod sind daher unsicher über die zahlreichen Holzstöcke, die Wandernde in einem Bergpass fanden. Sie spekulieren, dass sie von den Kelten während der Römerzeit als Markierungen verwendet worden sein könnten. In der Gletscherarchäologie gilt zudem: In sich ruhende Eisfelder („ice patches“) konservieren Objekte oft am Ablageort, während Gletscher durch ihre Bewegung Funde transportieren und den ursprünglichen Kontext verzerren.

„Wir gehen zurück, wir gehen zurück, und wir finden immer noch Holz“, so der Kurator. „Das ist wirklich eine laufende Forschung.“

Artefakte wie die Besitztümer eines wohlhabenden Reisenden aus dem 17. Jahrhundert bieten klarere historische Kontexte. Diese Gegenstände wurden auf dem Theodulgletscher gemeinsam mit den Überresten von Maultieren gefunden und lassen vermuten, dass er ein Kaufmann war, der bei einem Gletscherunfall ums Leben kam. Gut erhaltene Artefakte, darunter Münzen aus Norditalien und Waffen aus dem heutigen Deutschland, zeichnen ein Bild einer historischen Wirtschaft, die die Alpen überspannte.

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Die Nadel im Eishaufen

Gletscherarchäolog*innen müssen schnell handeln, um Artefakte zu bewahren, da organische Materialien nach dem Auftauen rasch verderben. Zum Beispiel benötigten Holzstöcke vom Col Collon, die von Pilz befallen waren, sofortige Behandlung in einer sauerstofffreien Kammer. Um die Bergung archäologischer Funde zu unterstützen, entwickelten Archäologen im Wallis die IceWatcher-App, mit der Wandernde Funde samt Koordinaten direkt melden können – ein wichtiger Schritt, um Verluste zu vermeiden.

„Wir sagen, dass Glazialarchäologie bedeutet, eine Nadel in einem Eisberg zu finden“, zitierte Business Insider den ansässigen Archäologen Romain Andenmatten. „Ich denke, die Bürgerwissenschaft ist eine gute Lösung.“

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Datierung & Konservierung

Zeitliche Einordnung gelingt vor allem über 14C-Datierungen und – bei Holz – über Dendrochronologie, die in Schweizer Laboren seit Jahrzehnten etabliert ist. Dadurch lassen sich Funde jahrgenau datieren; am Schnidejoch etwa wurden dank Datierungen frühe Nutzungsphasen eines hochalpinen Passes sichtbar.

Konservatorisch zählt jede Stunde: Organisches Material bleibt bis zur Untersuchung gefroren und wird anschließend mit Verfahren wie PEG-Tränkung und (Vakuum-)Gefriertrocknung stabilisiert – Standardmethoden für „Nassholz“ und Leder. Das Schweizerische Nationalmuseum betreibt dafür spezialisierte Labore und nimmt auch externe Aufträge an.

International zeigen Programme wie Norwegens „Secrets of the Ice“ Best Practices: schnelle Berge-Teams, standardisierte Konservierungsketten und enge Öffentlichkeitsarbeit – 2025 ausgezeichnet mit einem European Heritage Award. Solche Modelle gelten als wegweisend für Alpenregionen, in denen das Eis weiterhin stark schwindet.

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Einfluss des Klimawandels

Der Klimawandel beschleunigt das Abschmelzen der Gletscher, wodurch immer mehr wertvolle archäologische Funde zutage treten. Diese Artefakte, oft Jahrtausende alt, sind jedoch gefährdet, da organische Materialien wie Holz und Leder schnell verfallen, sobald sie dem Eis entzogen werden. Archäolog*innen müssen daher rasch handeln, um diese Funde zu bergen und zu konservieren.

Gleichzeitig verändert der Rückgang der Gletscher die alpine Landschaft drastisch, was Auswirkungen auf das Verständnis historischer Handelsrouten und Siedlungen hat. Die rapide Deglaziation hat bereits dazu geführt, dass hochalpine Pässe wie das Schnidejoch als prähistorische Übergänge neu bewertet werden. Während die Entdeckungen wertvolle Einblicke in vergangene Zivilisationen bieten, zeigen sie auch, wie stark der Klimawandel unser kulturelles Erbe bedroht. Die UNESCO führt den Verlust archäologischer Funde im Hochgebirge inzwischen ausdrücklich als kulturellen Schaden des Klimawandels.

Darüber hinaus entstehen neue Gletscherseen und instabile Hänge, was nicht nur das Landschaftsbild, sondern auch Fundstellen gefährdet. Archäolog*innen sprechen von einem Wettlauf gegen die Zeit: Ohne schnelle Meldestrukturen und konservatorische Maßnahmen droht ein unwiederbringlicher Verlust von Wissen.

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Was Finder*innen wissen müssen

In der Schweiz liegt die Verantwortung für Archäologie bei den Kantonen – archäologische Funde sind in der Regel Kantonseigentum („Schatzregal“). Wer etwas entdeckt – ob am Wegrand, im Eisfeld oder auf einer Baustelle –, muss den Fund der zuständigen Kantonsarchäologie melden. Nationale Übersichten liefert dazu das Bundesamt für Kultur.

Die Praxis ist klarer, als viele denken: gezieltes Suchen nach Altertümern ohne Bewilligung ist verboten. Selbst die Nutzung von Metalldetektoren ist kantonal geregelt und oft eingeschränkt. Offizielle Stellen und Fachverbände raten ausdrücklich zur sofortigen Fundmeldung inklusive genauer Fundortangabe, statt Objekte mitzunehmen.

Wie ernst das genommen wird, zeigen aktuelle Fälle: 2024 beschlagnahmte die Walliser Polizei eine Sammlung von archäologischen Artefakten „von unschätzbarem Wert“, nachdem ein Mann beim illegalen Sondeln ertappt worden war. Die Behörden betonen, dass solche Funde nicht privat angeeignet werden dürfen und zu melden sind; ähnliche Hinweise finden sich in Kantonen wie Aargau.

Quellen: Akademie der Naturwissenschaften Schweiz; „An Enigmatic Iron Age Wooden Artefact Discovered on the Col Collon (3068 m a. s. l., Evolène, Ct. Valais / CH)“ (Archäologisches Korrespondenzblatt, 2021); Business Insider; Archäologie Schweiz; Kantonspolizei Wallis; United Nations Educational Scientific and Cultural Organization; European Heritage Awards

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