Mit „Ruinenschleicher und Schachterleis“ über das München der Nachkriegszeit war dessen Filmemachern ein Überraschungserfolg geglückt. In einem Nachfolgeprojekt sollen nun Zeitzeugen ihre Erinnerungen an die Wirtschaftswunderjahre in der Stadt teilen.
Als Münchens Jugend rebellierte
Angelika Büttner sitzt im Vorraum eines Kinos, im Hintergrund sind Stimmen zu hören – doch in Gedanken ist die 86-Jährige weit weg. Und zwar im Juli 1954, vor wenigen Tagen ist Deutschland Weltmeister geworden, und nun werden die Helden von Bern auf dem noch kriegszerstörten Marienplatz von Zehntausenden Menschen empfangen – darunter die 14-jährige Angelika Büttner. Anfangs habe sie wegen der vielen Leute nichts gesehen, doch dann sei sie auf eine Leiter gestiegen und habe den Autokorso mit den winkenden Fußballern erspäht. „Im ersten Wagen saß Fritz Walter“, erzählt Büttner mit in sich gekehrtem Blick, ganz und gar selig in der Erinnerung. „Und wie der übers ganze Gesicht gelacht hat – das sehe ich heute noch vor mir.“
Wenige Sätze später stoppt die Aufnahme von Angelika Büttner, und der Mann, der das Gespräch mit ihr aufgezeichnet und soeben vorgeführt hat, steckt sein Handy wieder ein. „Na, ist das nicht großartig?“, fragt Michael von Ferrari und blickt sein Gegenüber strahlend an. „Wie diese Frau erzählen kann! Als hätte sie es gestern erlebt.“
Solche Erinnerungen sind ein Schatz für Michael von Ferrari, der sich selbst einen „Lebensgeschichtensammler“ nennt. Wobei der 67-Jährige die gesammelten Erinnerungen mit möglichst vielen Menschen teilen will, was ihn damals auf die Idee mit dem Dokumentarfilm gebracht hat. Gemeinsam mit Ursula Ambach, Lutz Eigel und Angelika Wimbauer drehte Ferrari „Ruinenschleicher und Schachterleis“ – ein Überraschungserfolg, dem das Quartett nun eine weitere Dokumentation über „München in den Wunderjahren“ folgen lässt. Und in diesem Film könnte auch Angelika Büttner als Zeitzeugin auftauchen – mit ihrer Erinnerung an die Helden von Bern.
Sagt Michael von Ferrari und lehnt sich lächelnd zurück – eine Hand auf seinem Rollator, den er wegen seiner Parkinson-Erkrankung benötigt. Mit diesem Gefährt ist der 67-Jährige heute nach Unterhaching ins Kulturzentrum gekommen, wo später „Ruinenschleicher und Schachterleis“ gezeigt wird. Laut Ferrari ist es die 231. Aufführung der Dokumentation, die anhand von Interviews, historischen Fotos und Filmausschnitten vom München der Nachkriegsjahre erzählt – und zwar aus dem Blickwinkel jener Zeitzeugen, die damals Kinder waren. Mehr als 20 000 Menschen hätten den Film bislang gesehen, sagt Ferrari. „Ich habe schon früh gespürt, dass das Projekt Potenzial hat. Aber dass es so abgeht, hätten wir alle nie gedacht.“

Mit dem Wort „wir“ meint der 67-Jährige auch Lutz Eigel und Angelika Wimbauer, die er seinerzeit in einem Kurs zum sogenannten Kulturführerschein kennenlernte und für seine Filmidee begeisterte. Zusammen mit Kameramann Josef Pröll interviewten sie knapp 40 Zeitzeugen und nahmen Dutzende Stunden Videomaterial auf. Über einen Bekannten kam dann die Filmemacherin Ursula Ambach hinzu, die das Laientrio zunächst beratend unterstützte und später die Dramaturgie und den Schnitt des Films übernahm. „Es war unglaublich, mit wie viel Energie und positiver Begeisterung diese drei das Projekt vorangetrieben haben“, sagt die 46-Jährige. Allen voran Michael von Ferrari steckte, wie er sagt, „60- bis 70-Stunden-Wochen“ in den Film, für den er Schauspieler Udo Wachtveitl als Sprecher gewinnen konnte.
„Es gab noch nie eine Tätigkeit, die mich so erfüllt hat“, sagt der frühere Umweltreferent der Gemeinde Haar, der seit Kurzem im Ruhestand ist. Ursächlich hierfür sei zum einen seine Leidenschaft für Geschichte, zum anderen aber auch die zahlreichen Begegnungen und Gespräche, die ihm das Projekt beschert haben. „Viele Senioren finden sich in den Erzählungen der Zeitzeugen wieder“, benennt Ferrari einen Erfolgsfaktor des Films. Doch auch bei jungen Menschen sei das Interesse an diesem Stück Münchner Geschichte groß. So habe man „Ruinenschleicher und Schachterleis“ an fast zwei Dutzend Schulen gezeigt – meist im Beisein eines Zeitzeugen. „Und hinterher haben sich oft tolle Diskussionen entwickelt.“
Nicht nur für ihn, sondern auch für Wimbauer ist das Filmprojekt „ein Stück weit Lebensinhalt“ geworden, wie sie sagt. Entsprechend habe es schon kurz nach der Premiere Überlegungen gegeben, einen Nachfolger zu drehen, erzählt Eigel. Dieser soll zeitlich an den ersten Film anknüpfen und vom Leben im München der 1950er- und 1960er-Jahre erzählen. Da die Filmemacher erneut auf Zeitzeugen-Interviews setzen, ist der Blickwinkel diesmal der von Teenagern, weshalb der Arbeitstitel lautet: „München in den Wunderjahren – Jugend zwischen Protest und Anpassung.“
Thematisch könnten der Rock ’n’ Roll, die beginnende Aufarbeitung der NS-Zeit und die Halbstarken-Proteste eine Rolle spielen, schätzt Ferrari, aber auch das Familienbild und der Erziehungsstil jener Jahre. Genaueres könne er derzeit nicht sagen, schließlich hänge vieles von den Aussagen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ab. Anfang nächsten Jahres wolle man mit den Interviews beginnen; die fertige Dokumentation könnte dann 2027 Premiere feiern. Aktuell ist das Filmquartett dabei, Fördergelder bei allen Bezirksausschüssen zu beantragen – so wie schon bei „Ruinenschleicher und Schachterleis“. Wobei man die Zuschüsse von damals mittlerweile komplett zurückgezahlt habe, sagt Michael von Ferrari und strahlt bei diesem Satz. Denn: Ausschlaggebend hierfür war der große Erfolg des Films.
