Prozess zum Zugunglück beginnt – aber sind die beiden Angeklagten allein verantwortlich?

Garmisch-Partenkirchen

Prozess zum Zugunglück beginnt – aber sind die beiden Angeklagten allein verantwortlich?

Mehr als drei Jahre nach dem Zugunglück im Landkreis Garmisch-Partenkirchen beginnt am Dienstag die juristische Aufarbeitung. Zwei Angeklagte stehen vor dem Landgericht München II. Sind sie allein verantwortlich?

Am 3. Juni 2022 entgleiste die von einer Lok geschobene Regionalbahn RB 59 458 kurz nach Verlassen des Bahnhofs Garmisch-Partenkirchen in einer Kurve bei Burgrain. Zwei Waggons stürzten eine steile Böschung hinab, fünf Menschen starben, 16 wurden schwer-, 62 leichtverletzt. Noch vor Beginn des Prozesses stehen für die Deutsche Bahn die Unglücksursache und die Schuldigen schon fest. In einer erstaunlich definitiv formulierten Pressemitteilung vom 1. September erklärte die Bahn: „Schadhafte Betonschwellen waren Ursache des tragischen Unfalls.“ Dazu hatte die Bahn ein eigenes Gutachten bei der Kanzlei Gleiss Lutz in Auftrag gegeben, als dessen Resümee es in der Mitteilung heißt: „Der Unfall war die unmittelbare Folge regel- und pflichtwidrigen Verhaltens des vor Ort tätigen betrieblichen Personals.“ Also der beiden Angeklagten – der damalige Fahrdienstleiter für Garmisch-Partenkirchen und der „Bezirksleiter Fahrbahn“ –, die nun wegen fahrlässiger Tötung und anderer Straftatbestände vor Gericht stehen. Es drohen im schlimmsten Fall Haftstrafen. Ein dritter Beschuldigter kam glimpflicher davon: Gegen den „Teamleiter Fahrbahn“ wurde das Verfahren gegen Geldzahlung eingestellt.

So eindeutig die Aussagen der Bahn, so nagend die Zweifel, die Sachverständige und Experten haben. Schon ein bereits im Juni zum 3. Jahrestag des Unglücks veröffentlichter Bericht der Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung (BEU) sah es anders als später die Bahn. Der BEU-Bericht wird von der Bahn gar nicht erwähnt. Zwar stellt die BEU ebenfalls fest, dass Betonschwellen angeknackst waren. Chemische Reaktionen hätten „teilweise deutliche Schädigungen“ verursacht. Fachleute sprechen von „Betonfraß“. Allerdings: Die Angeklagten werden von der BEU eher entlastet.

Die Warnung des Lokführers wurde nicht weitergegeben

Kern des BEU-Berichts ist, dass sich noch am Vorabend ein Lokführer beim jetzt angeklagten Fahrdienstleiter gemeldet und von einer Unregelmäßigkeit an der späteren Unglücksstelle berichtet hatte. Zwischen Farchant und Garmisch gebe es einen „Schlenker“, „da hupft der Zug richtig“. Einen Gleislagefehler vermutete der Lokführer. Diese Meldung gab der Fahrdienstleiter nicht weiter. Doch danach fuhren mindestens noch zehn Züge über die schadhafte Stelle, ohne dass etwas passierte oder Gleismängel auffielen. Der Fahrdienstleiter, so der BEU-Bericht, habe sich zwar nicht regelkonform verhalten, aber ein „ursächlicher“ Fehler sei ihm nicht nachzuweisen. Auch den zweiten Angeklagten nimmt die BEU indirekt in Schutz. Er sei „einer hohen Arbeitsbelastung und finanziellen Zwängen“ ausgesetzt gewesen, habe das auch oft moniert – ohne Ergebnis, weil Bautrupps bei der Bahn fehlten.

Der frühere Pro-Bahn-Aktivist Dieter Doege ist einer von mehreren Fachleuten, die sich eigene Gedanken gemacht haben. Es gibt unter ehemaligen Ingenieuren einige, die sich ihren eigenen Reim auf das Unglück machen. Eine Theorie besagt, dass das Unglück schlicht nicht passiert wäre, wenn der Zug von einer Lok gezogen statt geschoben worden wäre, weil dann Flieh- und Schubkräfte anders wirken. Davon ist im BEU-Bericht nichts zu lesen.

Über 60 Zeugen beim Bahn-Prozess

Auch für das Landgericht München II ist es ein Mammutverfahren: Über 60 Zeugen sollen beim Prozess aussagen, der am Dienstag gegen zwei Angeklagte der Bahn beginnt. Bis jetzt sind 19 Prozesstage bis in den Januar hinein anberaumt. In den ersten drei Prozesstagen sind Polizisten als Zeugen geladen, später auch DB-Leute und damals verletzte Zuginsassen. Zudem gibt es zwei Nebenkläger, neben dem Angehörigen eines beim Unglück Getöteten ist dies ein damals verletzter Fahrgast.

Doege wiederum weist auf den steilen und durch einen Bach durchnässten Bahndamm als Hauptursache des Unglücks hin. Der Hamburger hat die Unglücksstelle auf eigene Faust inspiziert und mit damals Verantwortlichen gesprochen. Der Untergrund sei instabil, sagt Doege. Das Gleis könne sich an der Unglücksstelle so weit abgesenkt haben, dass die Räder eines Waggons das Gleis „überkletterten“. Der BEU-Bericht bestätigt Doeges Erkenntnisse, wertet sie jedoch anders. Es gebe Bereiche, „in denen das Gleis nicht wirksam entwässert“ wurde, doch sei das „nicht relevant für das Ereignis“. Die BEU verweist dabei auf Untersuchungen der DB Netz. Eine eigene Analyse unterblieb, kritisiert Doege.

Keine Fangschienen am Bahndamm

Überhaupt nicht Thema ist, dass die Bahnböschung Ende der 1990er-Jahre steiler wurde, um nach dem Bau des Tunnels Farchant Platz für die danebenliegende Bundesstraße zu schaffen. Oft baut die Bahn an steilen Hängen sogenannte Fangschienen ein. Sie sollen dafür sorgen, dass ein entgleister Zug im Gleisbett bleibt und nicht abstürzt. Hier unterblieb das. Warum? Das steht für BEU und Bahn nicht zur Debatte. Der Vorstandschef von DB InfraGo, Philipp Nagl, hat nach dem Gutachten von Gleiss Lutz angekündigt, intern gegen DB-Leute vorzugehen, die auf Meldungen über Schwellen-Schäden „unzureichend“ reagierten. Mittlere Führungskräfte sollen entlassen worden sein. Auf die Anklagebank müssen sie aber nicht.

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