Streitfall um Merkzeichen H
Rollstuhl genügt nicht: Gericht trifft wegweisendes Urteil zu Schwerbehinderung
Ein aktuelles Urteil zeigt: Wer das Merkzeichen H erhalten will, muss seinen Hilfebedarf genau belegen. Pflegegrad und Diagnose reichen oft nicht aus.
Frankfurt – Nicht jeder, der als schwerbehindert gilt und gesundheitlich stark eingeschränkt ist, erhält automatisch das Merkzeichen H im Schwerbehindertenausweis. Denn Voraussetzung ist laut dem nordrhein-westfälischen Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales ein dauerhaft erheblicher Hilfebedarf im Alltag.
Das Merkzeichen H steht für „hilflos“ und bringt spürbare Vorteile – von Steuererleichterungen über kostenfreien Nahverkehr bis hin zur vollständigen KfZ-Steuerbefreiung, wie die Landesbehörde Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS) erklärt. Ein aktuelles Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg (Az. L 12 SB 440/24) zeigt nun, wie streng die Kriterien tatsächlich geprüft werden. Ein Überprüfungsantrag bei Schwerbehinderung kann sich negativ auswirken – so kann eine Neubewertung des GdB oder der Merkzeichen auch zur Herabstufung führen.
Kein Merkzeichen H, trotz Rollstuhl und GdB 100: Gericht sieht ausreichende Selbstständigkeit
In dem verhandelten Fall hatte eine 50-jährige Antragstellerin bereits einen GdB von 100 anerkannt bekommen. Zusätzlich waren ihr die Merkzeichen G für gehbehindert, B für Begleitperson und aG für außergewöhnlich gehbehindert zuerkannt worden. Die Frau nutzte zudem einen Rollstuhl, auch in der Wohnung, und litt unter chronischen Schmerzen.
Viele hätten erwartet, dass unter diesen Umständen das Merkzeichen H erteilt wird. Doch das Gericht entschied anders. Die Richter kamen zu dem Schluss: Trotz ihrer gesundheitlichen Situation sei die Klägerin in der Lage, wesentliche Alltagsverrichtungen wie Ankleiden, Essen oder Körperpflege eigenständig durchzuführen. Damit fehle es an der nötigen Häufigkeit und Intensität des Hilfebedarfs, um als „Hilflos“ im Sinne der gesetzlichen Vorgaben zu gelten.
Besonders überraschend: Selbst der dauerhafte Gebrauch eines Rollstuhls genüge in diesem Fall nicht. Zwar kann bei bestimmten Erkrankungen wie Querschnittslähmung das Merkzeichen H pauschal vergeben werden. Doch auch dann prüfen die Behörden, ob die Rollstuhlnutzung medizinisch zwingend notwendig ist und welche Einschränkungen konkret im Alltag bestehen. Im Fall der Antragstellerin stellten die Richter fest: Sie konnte Transfers vom Rollstuhl auf andere Sitzgelegenheiten selbst bewältigen. Das allein reichte nicht aus, um eine Hilflosigkeit im Sinne des Gesetzes anzunehmen. In einem anderen Fall zeigt ein Gericht, warum ein Schwerbehindertenausweis nicht automatisch unbefristet erteilt wird – trotz langjähriger Erkrankung.
Merkzeichen H: Das sind die Voraussetzungen
Was bedeutet das konkret? Nach Angaben des nordrhein-westfälischen Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales gilt eine Person dann als hilflos, wenn sie im Alltag dauerhaft auf fremde Hilfe angewiesen ist. Entscheidend ist dabei nicht die Diagnose, sondern der tatsächliche Unterstützungsbedarf im täglichen Leben.
Laut dem Online-Portal betanet.de wird das Merkzeichen H nur dann vergeben, wenn eine Person täglich bei mindestens drei regelmäßig wiederkehrenden Grundverrichtungen auf erhebliche Hilfe angewiesen ist. Zu diesen sogenannten Grundverrichtungen zählen unter anderem:
- An- und Auskleiden
- Körperpflege
- Toilettengänge
- Nahrungsaufnahme
Laut ZBFS wird das Merkzeichen H in der Regel Personen mit Pflegegrad 4 oder 5 zuerkannt – jedoch immer unter Berücksichtigung des Einzelfalls. Ein Gericht spricht indes Menschen mit Schwerbehinderung wichtige arbeitsrechtliche Vorteile zu und setzt ein klares Zeichen.
Schwerbehindertenausweis: Für Merkzeichen H ist die Dokumentation auch entscheidend
Ein wesentliches Fazit aus dem Urteil: Wer das Merkzeichen H beantragen will, sollte nicht nur auf medizinische Unterlagen setzen. Entscheidend ist der gelebte Alltag und dass der tatsächliche Hilfebedarf nachvollziehbar dokumentiert wird.
Experten empfehlen, ein Tagesprotokoll zu führen, in dem detailliert aufgeführt wird, wann, wie oft und in welchem Umfang fremde Hilfe benötigt wird. Auch ärztliche Stellungnahmen sollten über bloße Diagnosen hinausgehen und konkret schildern, welche alltäglichen Handlungen ohne Unterstützung nicht möglich sind. Ein hoher Grad der Behinderung, ein Pflegegrad oder der Einsatz eines Rollstuhls können zwar Hinweise liefern, doch entscheidend bleibt der konkret nachgewiesene Hilfebedarf im Alltag. Nur wer diesen plausibel darlegt, hat Chancen auf Anerkennung.
Ein hoher GdB ist nicht in Stein gemeißelt – welche Möglichkeiten Betroffene haben, wenn ihr Behinderungsgrad herabgestuft wird. Bei fehlerhafter Anerkennung ist zudem ein Widerspruch möglich. (Quellen: Gerichtsurteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg, betanet.de, Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, ZBFS) (vw)
