Maulende Minister, schwache Führung und miese Umfragen: Lars Klingbeils Plan, die SPD neu zu beleben, gerät ins Wanken.
Der Vizekanzler kommt ins Kino. In Saal 5, zwischen dem Kanu des Manitu und Schule der Magischen Tiere – Teil 4, hat Lars Klingbeil zum Bürgerdialog nach Brandenburg an der Havel geladen. Es geht an diesem Abend einmal quer durchs politische Spektrum: von Bürgergeld, über Integrationsklassen bis hin zu Putins Angriffskrieg. Die elf rot gepolsterten Sitzreihen sind bis auf den letzten Platz gefüllt. Eine SPD-Sprecherin hält eine große Tüte Popcorn in der Hand.
Doch so richtige Partylaune will nicht aufkommen. Zu viel liegt im Argen, zu groß sind die Sorgen. Klingbeil nimmt sich Zeit, auch kritischen Fragestellern schaut er freundlich in die Augen. Der Applaus ist oft dünn. Obwohl viele Genossen im Saal sind – und fast alle sich duzen.
Nein, es war kein gutes Bild, das die SPD zuletzt geboten hat, die vergangene Woche im Bundestag wirkt noch nach. Die Fraktionsspitze der SPD hatte sich mit der Union eilig und überraschend auf ein Losverfahren für die Bundeswehr geeinigt, sollten sich künftig nicht genug Freiwillige finden. Boris Pistorius, der zuständige Verteidigungsminister, sprach sich dagegen aus. Viele andere Sozialdemokraten ebenfalls. Die Sitzung endete im offenen Dissens, die Pressekonferenz wurde abgesagt.
Einer kritisiert den “schwachsinnigen Vorschlag”
“Unterirdisch” und “peinlich”, sagten hinterher Sozialdemokraten über sich selbst. Das ganze Vorgehen war schlecht vorbereitet und kommuniziert, und das in einer so bedeutenden Frage wie der Wehrpflicht. Der Eindruck, der entstand, widersprach dem Bild, das die SPD gern von sich selbst zeichnet: Wir sind die Profis auf der Regierungsbank. Streit und Disziplinlosigkeit? Gibt’s drüben bei der Union!
Schon zu Ampelzeiten hörte man das oft: Schuld sind die Koalitionspartner. Damals schoben viele Sozialdemokraten ihr Popularitätsdefizit insgeheim auf den Scholzomaten im Kanzleramt. Inzwischen ist Scholz Geschichte, nur die Unzufriedenheit ist geblieben. Die Umfragewerte sind nicht besser, die inhaltlichen Unklarheiten nicht weniger geworden. Das zeigt die Wehrpflicht-Debatte, an der sich vom Falken bis zum Pazifisten alle beteiligen.
Nur Lars Klingbeil hat sich bisher zurückgehalten. Das ändert sich auch an diesem Abend nicht, obwohl viele im Brandenburger Kinosaal diese Frage bewegt. Ein Fragesteller kritisiert den “schwachsinnigen Vorschlag” mit dem Losverfahren. (Ein Modell wohlgemerkt, das Fraktionschef Matthias Miersch am Vortag in der ZEIT noch explizit verteidigt hat.) Eine Dame äußert unter Tränen ihre Angst vor dem Krieg und vor Russland.
Als Meinungsführer fällt er weitgehend aus
Klingbeil stellt sich der Diskussion. Aber eine klare Positionierung vermeidet er. Der “respektlose” Ton gefällt ihm nicht, gleichwohl bemüht er sich um Verständnis: “Ich verstehe, dass Ängste da sind. Ich habe die auch.” Aber er vermeidet es tunlichst, sich in der Wehrdienst-Debatte zu positionieren, sie eventuell sogar prägen zu wollen. Er spricht von “verschiedenen Optionen”, die es im Bundestag nun zu besprechen gelte, ohne die Menschen zu verunsichern. “Da gucken wir nach den besten Wegen”, endet er vage.
In vielen Debatten hat Klingbeil zuletzt auffällig verhalten reagiert. Als jemand, der Orientierung stiftet, ist er als Vizekanzler bisher selten aufgefallen. Das hat Gründe: Klingbeil ist stark beansprucht von seiner neuen Rolle als Finanzminister und Vizekanzler. Die Arbeitslast ist immens. Zuvor nie Minister, auch in der Finanzpolitik kannte er sich nicht im Detail aus. Zusätzlich ist er innerparteilich geschwächt durch sein schwaches persönliches Ergebnis auf dem Parteitag im Juni. Konsequenz: Als Meinungsführer fällt er bisher weitgehend aus.
Nach der Bundestagswahl hatte Klingbeil es darauf angelegt, der neue starke Mann der SPD zu werden. Vom Erfolg verwöhnt ist er seither nicht. Seine Erzählung, mit der er angetreten ist, verfängt noch nicht so recht: Er hat als Finanzminister das riesige Sondervermögen ausgehandelt, mit dem in die Zukunft investiert wird. Aber statt Dank muss er sich mit Kritik der Ministerpräsidenten und anderen, die gern mehr Geld hätten, herumschlagen.
Auch an der Stadtbild-Diskussion, die Friedrich Merz entfacht hat, hat sich Klingbeil lange nicht beteiligt. In Brandenburg warnt er vor “Pauschalisierung” und vor der “Vermischung von Migration und Sicherheit”. Politik müsse Lösungen anbieten, nicht verunsichern. Und von den Leuten erwarte er, dass die sich an die Regeln halten, ob sie einen Migrationshintergrund haben oder nicht, sei ihm dabei “völlig egal”. Es ist einer der wenigen Momente, in denen das Kinopublikum lauter klatscht.
So distanziert sich Klingbeil indirekt von den Aussagen des Kanzlers. Merz persönlich dagegen verteidigt er. Schließlich ist ihm ein harmonisches Erscheinungsbild der Regierungsspitze wichtig. “Ich würde dem Kanzler nie was Schlechtes unterstellen, weil ich ihn kenne, weil ich mit ihm darüber rede”, beteuert Klingbeil. Trotzdem werde er als SPD-Chef weiter seine Meinung sagen, auch wenn die von der des Kanzlers abweiche.
Die drei Machtzentren der SPD
Schärfer fiel die Kritik an Merz von SPD-Generalsekretär Tim Klüssendorf aus. Seine “Erwartung an die Spitze eines Staates” sei deutlich höher, sagte er in einer Talkrunde. Es ist der Versuch einer Rollenteilung. Klüssendorf und die Parteivorsitzenden sprechen sich dem Vernehmen nach eng ab. Oft anzutreffen im Willy-Brandt-Haus ist Klingbeil, der jahrelang der Parteimanager schlechthin war, aber immer seltener zwischen all seinen ministeriellen Pflichten. Dem 34-jährigen Generalsekretär hingegen spricht keiner großen Elan und Einsatz ab, nur seine Autorität stellen einige infrage.
Oft wirkt es, als wären die drei Machtzentren der SPD – Partei, Fraktion und Regierung – nicht besonders gut koordiniert. Die meisten Führungspositionen sind neu besetzt, überall laufen Einarbeitungsprozesse. Auch die SPD-Spitze selbst hat inzwischen erkannt, dass sie sich besser untereinander absprechen sollte. “Natürlich muss sich da noch manches zusammenruckeln”, sagt Derya Türk-Nachbaur, seit dieser Legislaturperiode Parlamentarische Geschäftsführerin.
Zum Zusammenruckeln hat die SPD-Spitze nun, auf Initiative von Klüssendorf, eine neue Rückspracherunde ins Leben gerufen. Zweimal wöchentlich sollen sich hier Führungspolitiker aus Partei und Fraktion austauschen. Auch Derya Türk-Nachbaur nimmt daran teil. “Das hätte man auch schon früher machen können”, sagt sie.
Ein bisschen Scholz, ein bisschen Merkel
Die SPD liebt den Streit – aber sie sehnt sich zugleich nach straffer Führung. Fehlt diese, knirscht und ruckelt es schnell. Dann schwelen Hierarchiefragen und Disziplinprobleme. Neben Klingbeil wird auch sein Vertrauter, der Fraktionschef Miersch, misstrauisch beäugt. Er ist ebenfalls mit einem schwachen persönlichen Wahlergebnis ins neue Amt gekommen.
Im Kino wirft eine Frau gegen Ende Klingbeil vor, dass die SPD “das S” in ihrem Namen verloren habe. Realitätsfern und kalt, seien die Sozialdemokraten geworden. “Natürlich betrübt es mich”, antwortet Klingbeil und blickt sie traurig an. Er verspricht ihr, weiter für ein hohes Rentenniveau, für die Pflege, für Familien zu kämpfen. Und das noch besser zu kommunizieren.
In diesen Bürger-Dialogen gehe es immer viel um Probleme und Sorgen, sagt Klingbeil zum Abschied. Er appelliert an sein Publikum und die deutsche Gesellschaft, nicht nur “schlechte Laune” zu verbreiten. Er wünsche sich “ein bisschen Zuversicht“, ein Wort, das schon Olaf Scholz vergeblich bemühte. “Das kriegen wir hin”, variiert er noch den berühmtesten Satz von Angel Merkel. Was man eben sagt, wenn man hofft, dass das Land ein bisschen freundlicher auf einen blickt.
