Es ist ungewöhnlich, vor dem Einlass zu einer Pressekonferenz mehrere Minuten in einer langen Schlange warten zu müssen. Doch die Messe Spiel in Essen ist auch keine gewöhnliche Messe. Insofern ist die Pressekonferenz am Mittwoch mit rekordverdächtigen mehr als 400 Teilnehmern vor Ort ein passender Auftakt zur größten Brettspielmesse der Welt. Es ist eine Branche, die vom Nervenkitzel lebt, vom Anfassen des Spielmaterials aus Pappe und Holz und von der direkten Interaktion der Spieler am Tisch – nicht nur vor einem Bildschirm allein im stillen Kämmerlein zu Hause.
Die Branche zeigt, dass in einer immer digitaleren Welt das Bedürfnis nach Haptik und direkter Kommunikation nicht auf dem Rückzug sein muss. Carol Rapp, im dritten Jahr verantwortliche Organisatorin der Messe, kann davon berichten, erstmals sieben große Messehallen zu füllen. Die Messetage Freitag und Samstag sind mit je 55.000 verkauften Tickets schon ausverkauft, der Donnerstag stand Mittwochmittag kurz davor, und auch für Sonntag rechnet Rapp noch „sehr, sehr sicher“ damit, dass die Hallen ausverkauft sein werden.
Jagd auf Pokémon-Sammelkarten
Die Philippinen sind als Land erstmals dabei, Vietnam feiert mit einem großen Kreativwettbewerb und einer „Road to Essen“ ein Comeback. 948 Aussteller aus 50 Ländern werden mehr als 1700 Neuheiten präsentieren – nicht nur Brettspiele, auch Kartenspiele, Rollenspiele, Puzzles und Sammelkarten.
Gerade Letztere sorgen mit ihrem Boom für steigende Umsätze. Im vergangenen Jahr waren die Schlangen am Ravensburger-Stand wegen deren Disney-Lorcana-Sammelkarten die längsten. Derzeit schiebe die große Nachfrage nach Pokémon-Sammelkarten das Wachstum an. Hermann Hutter, Vorsitzender des Branchenverbandes Spieleverlage e.V., rechnet für dieses Jahr mit einem Branchenwachstum von 22 Prozent, trotz diverser Krisen auf der Welt und wirtschaftlicher Stagnation in Deutschland. Den deutschen Markt taxiert er auf eine Größe von rund einer Milliarde Euro, den Weltmarkt auf zwanzig Milliarden Euro. „Auch das globale Wachstum ist intakt, die wärmeren Länder haben noch Nachholbedarf, in Europa Spanien und Italien zum Beispiel.“
Afrika ist als einziger Kontinent anders als im Vorjahr nicht auf der Messe präsent. Pro Kopf führend seien die Niederländer beim Brettspielkauf, sagt Hutter im Gespräch mit der F.A.Z. Deutschland gehöre zur Spitzengruppe. Mit Blick auf das Weihnachtsgeschäft zeigt sich Messechefin Rapp optimistisch und zitiert eine Umfrage des Marktforschungsinstituts Appinio, wonach 78 Prozent der 16 bis 65 Jahre alten Befragten es für wahrscheinlich halten, dieses Jahr noch mindestens ein Spiel zu kaufen.
Zollkonflikt erschwert Spiele-Produktion in China
„In Zeiten sozialer Aggressivität spürt man ein echtes Bedürfnis nach Beruhigung“, sagte Thomas Koegler, der Vorstandsvorsitzende des größten europäischen Brettspielverlags Asmodee aus Frankreich, der im Februar in Stockholm an die Börse ging. „Brettspiele sind eine Möglichkeit zu entfliehen, auch von Bildschirmen, die allgegenwärtig geworden sind“, so Koegler. „Es gibt den Wunsch nach Verbundenheit und einfachen Freuden“, begründete er den Brettspielaufschwung, der spätestens mit dem Corona-Beginn seinen Anfang nahm.
Von den Krisen der Welt freimachen, kann sich die Branche indes nicht. Zweitgrößter Markt nach Frankreich für Asmodee sind die USA, 12 Prozent der Spiele werden in China für den US-Markt produziert. Je nach Lage im Zollstreit wurde Ware zurückgehalten, aber auch Indien, Kambodscha und Vietnam als Alternativen für die Produktion erwogen. Karsten Esser, Gründer und Geschäftsführer von Pegasus Spiele, die mit „Bomb Busters“ das diesjährige Spiel des Jahres im Programm haben, berichtet ebenfalls von Reisen nach Fernost, um sich in der Produktion breiter und unabhängiger aufzustellen. Ein Preisaufschlag für „Made in Germany“ lasse sich am Markt kaum durchsetzen.
Mit einer großen eigenen Produktion in Prag geht Czech Games Edition (CGE) erfolgreich einen ungewöhnlichen Weg. Am Mittwoch in Essen hatte der Verlag mit seinem deutschen Kooperationspartner Heidelbär Games gleich zweimal Grund zum Jubeln. Die beiden Publikumsabstimmungen für das „Beste Kinderspiel“ und den „Deutschen Spielepreis“ gewannen tschechische Autoren von CGE und Heidelbär für die Spiele „Die kleinen Alchimisten“ und „Seti“, wie Messebotschafterin Mhaire Stritter verkünden durfte, bevor sie die versammelten Journalisten zur Neuheitenschau mit mehr als 900 aufgebauten Spielen entlassen durfte.
