Entscheidende Weichenstellung
Stadt Kempten und Landkreis Oberallgäu lassen Auswirkungen eines MVV-Anschlusses untersuchen
Welche Auswirkungen hätte ein Anschluss an den Münchener Verkehrsverbund? Kempten und das Oberallgäu geben Studie in Auftrag – mit Signalwirkung für den ÖPNV in der Region.
Kempten/Oberallgäu – Die Region steht vor einer entscheidenden Weichenstellung für die Zukunft des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV). In einer gemeinsamen Sitzung des Kreisausschusses Oberallgäu und des Ausschusses für Mobilität und Verkehr der Stadt Kempten vergangene Woche haben die Mitglieder einstimmig beschlossen, eine vertiefende Studie zum Beitritt in den Münchner Verkehrs- und Tarifverbund (MVV) in Auftrag zu geben. Ein Redebeitrag sorgte für Aufregung.
Bislang zählen die Stadt Kempten und der Landkreis Oberallgäu zu den wenigen Regionen in Deutschland, die keinem Verkehrsverbund angehören. Für Fahrgäste bedeutet das: komplizierte Tarifstrukturen, gleich mehrere Tickets für eine einzige Fahrt und fehlende digitale Buchungsmöglichkeiten. Die gescheiterte Verbundintegrationsstudie Allgäu (wir berichteten) der Landkreise Oberallgäu und Ostallgäu sowie der kreisfreien Städte Kaufbeuren und Kempten im Frühsommer 2025 hat den Handlungsdruck erhöht. Zudem drängt die Zeit: Fördermittel des Freistaats können nur genutzt werden, wenn bis Jahresende eine klare Richtung beschlossen ist.
Oberallgäu und Kempten prüften mehrere Optionen für Beitritt zu einem Verkehrsverbund
Die Verwaltungen von Stadt und Landkreis haben daher vier mögliche Optionen für einen Verbundbeitritt ergebnisoffen geprüft: eine Insellösung, also ein eigener Verbund für die Stadt Kempten und das Oberallgäu, den Beitritt zum MVV, den Anschluss an den Bodensee-Oberschwaben-Verkehrsverbund (bodo) sowie an den Verkehrsverbund Mittelschwaben (VVM). Bei der Bewertung spielten drei Aspekte eine zentrale Rolle: Die Schaffung eines Mehrwerts für den Fahrgast, die Verbesserung der Organisationsstruktur und Leistungsfähigkeit des Verbundes sowie die Kosten und Fördermöglichkeiten.
Dafür wurde ein 28 Punkte umfassender Kriterienkatalog entwickelt, der als Bewertungsgrundlage diente. Die Verbundoption, die ein Kriterium am besten erfüllte, erhielt 4 Punkte, diejenige, die es überhaupt nicht erfüllte, 0 Punkte.
MVV klarer Punktsieger
Das Ergebnis ist eindeutig: Der MVV erreicht mit 3,49 Punkten den ersten Platz, gefolgt von bodo (2,85) und VVM (2,72). Die Insellösung landet abgeschlagen auf Platz vier (1,68). Vor allem beim Fahrgastnutzen sowie der Organisationsstruktur und Leistungsfähigkeit liegt der MVV klar vorn: „Wir kommen zur fachlichen Einschätzung, dass für die Mehrzahl der Fahrgäste der MVV den größten Mehrwert bieten würde.“
Dies liege daran, dass die Digitalisierung und digitale Beauskunftung dort sehr fortschrittlich sei. Und auch die verkehrlichen Verflechtungen seien dort besonders groß, betonte Roman Ohmayer vom Landkreis Oberallgäu in der Sitzung.
Favorit: MVV
Wichtige Verkehrsbeziehungen – etwa Richtung Ostallgäu, Kaufbeuren, München und Augsburg – werden besser vernetzt, was nicht nur die Mobilität verbessert, sondern auch die Straßen und die Bevölkerung vor Ort entlastet. Ein zentraler Erfolgsfaktor ist die tarifliche Integration des Schienenverkehrs, die neue Haltepunkte im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) ermöglicht und eine einheitliche Tarifstruktur schafft. Darüber hinaus profitieren Fahrgäste von digitalen Vorteilen wie der durchgehenden Buchbarkeit verschiedener Verkehrsmittel.
Zwar sind die Kosten in MVV und bodo höher als bei einer Insellösung, doch der deutlich größere Leistungsumfang, die effiziente Organisation und die gebündelte Fachexpertise machen diese Investition zukunftsfähig und nachhaltig. Auch hinsichtlich der Verkehrsverlagerungseffekte schneidet der MVV am besten ab: Größere Verbundräume ermöglichen bessere Verbindungen und damit realistische Zuwächse im ÖPNV.
Kosten und Förderung
Die jährlichen Betriebskosten liegen je nach Modell zwischen 425.000 Euro (Insellösung) und 982.000 Euro (Beitritt zum bodo). Für die Stadt Kempten würden beim MVV rund 282.000 Euro anfallen, für den Landkreis Oberallgäu 638.000 Euro – zusammen also 920.000 Euro. Fördertechnisch zeigt sich bei der Insellösung ein klarer Nachteil: Da die beiden Gebietskörperschaften weniger als 250.000 Einwohner haben, ist ein eigener Verbund nicht förderfähig. Damit gäbe es keine Förderung der sogenannten Durchtarifisierungsverluste im Schienenverkehr. Die Kosten für die Integrierung der Schiene müssten also vollständig selbst getragen werden. „Unter Berücksichtigung von Kosten, Förderfähigkeit und mittel- bis langfristigen Verlagerungseffekten stelle der MVV aus Sicht des Landkreises die vorteilhafteste Lösung dar“, erklärte Rafael Pfister, Sachgebietsleiter ÖPNV beim Landratsamt Oberallgäu.
Zustimmung und Kritik
Christina Mader (Grüne) machte deutlich, dass ihre Partei den MVV favorisiere. „Wir sehen es positiv, dass Digitalisierung und Ticketing viel einfacher werden und auch, dass wir eine Unterstützung kriegen bei einem einheitlichen Marketing.“
Alexander Buck (Freie Wähler) verlas eine Stellungnahme: Der MVV biete den größten Mehrwert für die Fahrgäste, für die Region und für die Zukunftsfähigkeit des ÖPNV. Und weiter: „Wer jetzt zögert, verspielt Förderung, Vertrauen und Zukunft.“ Zugleich nannte er einen möglichen Interessenkonflikt: Es gebe Widerstände gegen den Wandel, und das sei auch nicht neu. „Sie kommen aus Strukturen, die die Macht sichern wollen. Wenn jemand gleichzeitig Busunternehmer ist und im Gremium dieselben Themen mitentscheidet, dann stellt sich die Frage, wessen Interessen da eigentlich vertreten werden.“
Später in der Sitzung bemerkte Oberbürgermeister Thomas Kiechle sichtlich amüsiert dazu, dass man in allen Bereichen froh sei, wenn man Fachkompetenz in den politischen Gremien habe: „Darum kann auch ein Bauunternehmer Mitglied eines Stadtrats sein – und auch ein Busunternehmer, und auch ein Lehrer Mitglied im Schulausschuss.“ Das sei kein Nachteil, sondern ein Vorteil.
Josef Mayr (CSU) wies darauf hin, dass es viele Studien gegeben habe, welche dem ÖPNV in Kempten eine sehr positive Entwicklung bescheinigt hätten. Dieser habe sich deutlich verbessert im Vergleich zu anderen Regionen in Bayern. An Buck gerichtet sagte er: „Die Situation heute überhaupt nicht zu bewerten, da habe ich kein Verständnis.“ Hinter diesen Initiativen stünden leistungsfähige Firmen, die mit viel Herzblut gearbeitet und bisher große Ziele erreicht hätten.
Nur eine vertiefte Studie möglich
Markus Kubatschka (SPD) regte an, eine zweite Option vertieft zu untersuchen: „Können wir noch eine Studie zu bodo machen, um beide miteinander vergleichen zu können?“ Pfister sagte, personell und finanziell sei dies nicht machbar. „Der Freistaat sieht zwei parallel laufende vertiefende Studien nicht vor. Wir haben jetzt einen Schuss und müssen uns überlegen, auf welches Ziel wir den abfeuern.“
Julius Bernhardt (FFK) sagte, er trauere dem Allgäu‑Verbund noch nach, aber diese Option bestehe nicht mehr. „Entscheidend sind für mich zwei Punkte: die Integration der Schiene – ohne die geht es nicht, ohne die werden wir im Allgäu nie Verkehr von der Straße auf den ÖPNV bekommen – und die Leistungsfähigkeit der Organisation. Beides spricht eindeutig für den MVV.“
Warnung vor möglichen „Harmonisierungsverlusten“, sprich Mindereinnahmen
Helmut Berchtold (CSU) warnte eindringlich vor den möglichen finanziellen Folgen einer großräumigen Umstrukturierung im ÖPNV. Er sehe erhebliche Harmonisierungsverluste (also Mindereinnahmen) innerhalb des ÖPNV auf die Region zukommen. „Und was passiert, wenn wir Ende Dezember sagen: ‚Das haben wir nicht im Kreuz!‘ Haben wir dann einen Plan B?“
Dagmar Lazar, Leiterin des Kemptener Amtes für Wirtschaft und Stadtentwicklung, betonte, dass mögliche Harmonisierungsverluste bei der Tarifangleichung von Anfang an bekannt waren und derzeit keine Sorge bereiten. Ziel sei es gewesen, die vier Varianten zu bewerten. Sollte sich im Dezember herausstellen, dass die entstehenden Kosten zu hoch sind, müsse über das weitere Vorgehen neu entschieden werden. Zum Plan B: „Wir werden das brauchen, aber wir können das nicht parallel in zwei Monaten bearbeiten. Die Rückfallebene mit der Insellösung haben wir immer.“
So geht es weiter
Tags darauf fasste auch der Kreistag den Beschluss einstimmig. Von der bei Redaktionsschluss noch ausstehenden Zustimmung des Kemptener Stadtrats am Donnerstag ist auszugehen. Die Verwaltungen werden nun bis Dezember eine Studie zu den Auswirkungen eines MVV-Anschlusses erarbeiten. Klar ist: Ohne einen Verbundanschluss droht die Region, bei der Mobilitätswende abgehängt zu werden.
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