Union in verzwickter Lage
„Stadtbild“-Streit: Merz verfolgt wohl Kulturkampf-Kalkül – es ist ein Spiel mit dem Feuer
Friedrich Merz hat mit seinem Stadtbild-Kommentar eine Debatte losgetreten. Ein Demokratieforscher meint: bewusst. Denn die CDU ist in der Zwickmühle.
Berlin – Friedrich Merz hat es wieder getan: Er polarisiert mit seinem „Stadtbild“-Kommentar, bringt Teile der Bevölkerung gegen sich auf. Es ist nicht das erste Mal: Merz sprach einst vom „Sozialtourismus“ (wofür er sich später entschuldigte), von „kleinen Paschas“ unter arabischstämmigen Migranten und von Asylbewerbern, die sich in Deutschland die Zähne machen lassen. Der Unterschied: Diesmal ist Merz nicht mehr Oppositionsführer der CDU, sondern Kanzler.
Ein Kanzler sollte das Volk einen statt polarisieren, das werfen ihm viele jetzt vor. Aufhänger ihrer Kritik, ist, dass Merz vergangene Woche davon sprach, dass Deutschland trotz Erfolgen in der Migrationspolitik immer noch Probleme im „Stadtbild“ habe und dass man darauf mit vermehrten Rückführungen von Asylbewerbern reagieren werde. Merz denke rassistisch, er werte Menschen mit anderem Äußeren ab, heißt es nun von vielen Seiten. Es gab Proteste auf der Straße, sogar eine Strafanzeige wegen Volksverhetzung gegen den Kanzler. Auch am heutigen Donnerstag (23. Oktober) sind Demonstrationen in Kiel und Köln geplant.
Merz konkretisiert „Stadtbild“-Äußerung erst nach Tagen – trotz Protest und Kritik
Merz hat inzwischen konkretisiert, was er mit seiner Stadtbild-Äußerung meint: Am Rande eines Gipfels in London sagte er, Deutschland brauche Zuwanderung, Menschen mit Migrationshintergrund seien unverzichtbar, ihre Hautfarbe spiele keine Rolle. Ein Problem sehe er in denen, die „keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus haben, die nicht arbeiten und die sich auch nicht an unsere Regeln halten.“
Merz hat tagelang gewartet, bis er seinen umstrittenen Stadtbild-Kommentar genauer erklärte. Davor wollte er seine Pauschalisierung vom Problem im „Stadtbild“ auf Nachfragen nicht korrigieren und sich auch nicht dafür rechtfertigen. Lieber verwies auf unsere „Töchter“, die genau wissen würden, welche Bedrohung er meine. Warum hat der Kanzler den Protest so lange schweigend über sich ergehen lassen? Und warum war es ihm der Kommentar vom „Stadtbild“ überhaupt wert, so viel Unmut und Widerstand von SPD, Grünen und Linken auf seine Person zu ziehen?
Streit um „Stadtbild“-Kommentar: „Herr Merz bewegt sich mit Absicht an eine Grenzlinie“
Es steckt dahinter eine Strategie, glaubt der Leipziger Demokratieforscher Oliver Decker. „Herr Merz bewegt sich mit Absicht an eine Grenzlinie“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Der Kanzler spreche bestimmte Ressentiments selbst nicht offen aus, „aber er weiß, dass die Hinweise verstanden werden und er damit gleichzeitig die Ressentiments bedient, ohne den Teil der CDU vor den Kopf zu stoßen, die sie nicht teilen“.
Der Kanzler reagiere damit auf die verzwickte Lage, in der seine Partei sich befindet, so Decker: Einerseits ist die Union in einer Koalition mit der SPD, die sich links der Mitte positioniert und muss mit ihr Kompromisse eingehen. Andererseits lauert rechts der CDU/CSU die AfD und wartet nur darauf, dass die Union von den Bürgern als zu wenig konservativ wahrgenommen wird und sie sich abwenden.
„Stadtbild“-Streit: Merz trägt Kulturkampf zurück zu die Parteien der Mitte
Vor den anstehenden Landtagswahlen im kommenden Jahr will Merz nun möglicherweise das Profil der Union schärfen, sich stärker absetzen von Parteien links der Mitte. Merz sei es gelungen, den Kulturkampf mit seiner „Stadtbild“-Äußerung zurück in die Mitte der Gesellschaft zu bekommen, analysierte RND-Chefredakteurin Eva Quadbeck in einem Podcast der Bild. Der Kanzler verbuche dies wahrscheinlich trotz aller Kritik als Erfolg: Er könnte sich von den Sozialdemokraten abgrenzen, ohne dass es um handfeste Entscheidungen zur Sachpolitik gehe.
Tatsächlich kündigte Merz nach der Kabinettsklausur vergangene Woche an, kämpferischer gegenüber der AfD aufzutreten und erklärte sie zum „wahrscheinlichen Hauptgegner“ der kommenden Wahlen, den man kleinkriegen wolle. Dazu kommt, dass Merz sich wohl auch im Recht sieht mit seiner Analyse, dass viele Menschen sich in bestimmten Stadtvierteln nicht mehr wohlfühlen.
Merz bekommt dabei auch Zustimmung: Cem Özdemir (Grüne) gab ihm teilweise recht, Boris Palmer (parteilos) legte sogar noch eine Schippe drauf. Laut einer aktuellen Insa-Umfrage im Auftrag der Bild teilt auch ein großer Teil der Menschen in Deutschland die Einschätzung von Merz: 43 Prozent gaben an, das Stadtbild in ihrem Wohnort habe sich in den vergangenen zehn Jahren „(eher) zum Schlechteren verändert“. 39 Prozent sagten, sie fühlten sich in ihrem Wohnort „(eher) unsicherer“ als 2015.
Merz gehtmit „Stadtbild“-Strategie ein Risiko ein – gegenüber SPD und AfD
Merz spielt mit seiner Strategie jedoch mit dem Feuer. Er riskiert den Frieden in seiner Koalition: Vizekanzler Lars Klingbeil und SPD-Generalsekretär Tim Klüssendorf distanzierten sich bereits deutlich vom Kanzler. Und er läuft in Gefahr, Menschen nicht von der AfD weg, sondern hin zur AfD zu treiben. Diese Vermutung äußerte die Sprachwissenschaftlerin Constanze Spieß gegenüber dem Evangelischen Pressedienst epd. „Mit der Äußerung macht sich Merz sprachliche Muster der extremen Rechten zu eigen“, sagte Spieß, die in der Jury für das „Unwort des Jahres“ sitzt, zur „Stadtbild“-Debatte. Merz stärke mit solchen Äußerungen die AfD, statt Wählerinnen und Wähler zurückzugewinnen.
„Die bewusst vage Formulierung ist strategisch gewählt“, sagte Spieß auch. Merz könne sich jederzeit von seinen Äußerungen distanzieren und später sagen, er habe das so nicht gemeint. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Äußerung unüberlegt getroffen wurde“, sagte die Linguistin. (dpa, Evangelischer Pressedienst, Bild, eigene Recherche). (smu)
