Die Artemis ALM-20 markiert einen Strategiewechsel: Westliche Streitkräfte setzen nun auf kostengünstige Massenproduktion statt Hightech. Einschätzung.
Die Artemis ALM-20 gleitet lautlos durch die Luft, ihre Silhouette kaum sichtbar am Nachthimmel. Der Start erfolgt von einer einfachen Schiene, ein kurzer Feststoffbooster katapultiert sie in die Höhe, dann übernimmt der Verbrennungsmotor.
Was auf den ersten Blick wie ein harmloser Modellflugzeugstart wirkt, ist in Wirklichkeit ein technologisches Eingeständnis: Die USA und ihre Verbündeten müssen die russische Geran-Drohne kopieren.
Wie die EurAsian Times berichtet, haben das schweizerisch-amerikanischen Unternehmen Auterion und ein nicht genanntes ukrainisches Unternehmen gemeinsam die Artemis ALM-20 entwickelt.
Diese Drohne soll die Fähigkeiten der Shahed-136 nachahmen – jener iranischen Kamikaze-Drohne, die von Russland unter dem Namen “Geran-2” eingesetzt und unter großem Aufwand weiterentwickelt wird und sich als äußerst wirksam erwiesen hat.
Reichweite: 1.600 Kilometer und ein außergwöhnliches Zielsystem
Die Artemis ALM-20 verfügt über eine Reichweite von 1.600 Kilometern und hat einen Sprengkopf von 45 Kilogramm.
Besonders bemerkenswert ist das visuelle Zielsystem, das künstliche Intelligenz-Algorithmen nutzt. Herzstück ist der “Skynode N” Missionscomputer von Auterion, der ein KI-gesteuertes Navigationssystem integriert. Die Steuerungssoftware ermöglicht die Missionsplanung und Flugkontrolle über eine Standard-PC-Benutzeroberfläche.
Im ‘GPS+VIS’-Modus kombiniert das System Satellitennavigation mit kamerabasierter Führung. Dadurch kann die Drohne auch bei GPS-Störungen oder -Ausfällen weiterfliegen.
Die KI analysiert dabei kontinuierlich Kamerabilder, vergleicht sie mit gespeicherten Daten und ermöglicht so eine präzise Zielerfassung, selbst in elektronisch gestörten Umgebungen – ein entscheidender Vorteil in modernen Konflikten.
Interessanterweise gibt es Diskrepanzen zwischen dem offiziellen Bildmaterial, das einen elektrischen Motor zeigt, und den tatsächlichen Testvideos mit Verbrennungsmotor, so das ukrainische Fachblog Defence Express.
Dies deutet darauf hin, dass Auterion möglicherweise mehrere Varianten des Systems entwickelt – eine Langstrecken-Version mit Verbrennungsmotor und eine elektrische Variante mit kürzerer Reichweite.
Übergang zur Massenproduktion
Das Unternehmen plant nun den Übergang zur Massenproduktion. Produktionslinien sollen in der Ukraine, den USA und Deutschland entstehen.
Hochrangige US-Militärvertreter haben die Notwendigkeit ähnlicher Drohnen offen eingestanden. Die US-amerikanischen Streitkräfte sehen sich bei der Langstrecken-Aufklärung und beim Langstrecken-Angriff ins Hintertreffen geraten, wie The War Zone berichtet.
Neben der Artemis ALM-20 werden auch andere US-Versionen der Geran/Shahed entwickelt, wie die MQM-172 Arrowhead und das LUCAS-System (Low-Cost Uncrewed Combat Attack System). The War Zone berichtet, dass die USA “Zehntausende” solcher Drohnen jährlich produzieren müssten, nicht nur Hunderte oder einige Tausend.
Neuerliche Angriffe auf ukrainische Energieinfrastruktur
Die Effektivität der russischen Geran-Drohnen zeigt sich vor allem in den intensiven Angriffen auf die Energieinfrastruktur in der Ukraine. In den letzten Wochen hat Russland seine Luftkampagne gegen ukrainische Energieanlagen deutlich verstärkt, wie mehrere Quellen berichten.
Am 10. Oktober startete Russland einen großangelegten Drohnen- und Raketenangriff auf die Ukraine. Wie der Kyiv Independent berichtet, setzte die russische Armee dabei 465 Shahed-Drohnen und Täuschdrohnen sowie 32 Marschflugkörper und ballistische Raketen ein. Der Angriff zielte hauptsächlich auf kritische Infrastruktur, besonders im Energiebereich.
In Kiew kam es zu umfangreichen Stromausfällen. Auch in mehreren anderen Regionen wurden Notabschaltungen der Stromversorgung eingeführt, darunter in den Oblasten Poltawa, Sumy, Donezk, Tschernihiw, Tscherkassy, Odessa, Dnipropetrowsk und Charkiw.
Nur einen Tag zuvor hatte Russland die Region Odessa mit Drohnen angegriffen. Nach Angaben der Kyiv Post wurden 112 Drohnen verschiedener Typen eingesetzt, von denen 22 ihre Ziele in zwölf verschiedenen Orten trafen. Etwa 30.000 Einwohner waren ohne Strom.
Besonders schwer traf es die nördliche Region Tschernihiw am 21. Oktober. Wie die Times of India berichtet, führten russische Angriffe zu einem kompletten Blackout in der regionalen Hauptstadt und nördlichen Gebieten.
Nach ukrainischen Angaben wurden an diesem Tag 51 Drohnen und Raketen registriert, darunter zwei ballistische Raketen. Zwei Shahed-Drohnen trafen eine Heizungsanlage und ein Kraftwerk.
Diese Angriffe sind Teil einer breiteren Strategie Russlands, die ukrainische Energieinfrastruktur vor dem Winter zu schwächen. Die Geran-Drohnen zeigen sich dabei als effektives und kostengünstiges Mittel, um weiträumige Schäden anzurichten, ohne teure Marschflugkörper einsetzen zu müssen.
Neue Abfangrakete: Die belgische Antwort auf die Geran-Bedrohung
Gegen die täglichen Drohnenangriffe versucht die Ukraine eine wirksame Antwort zu finden. Eine vielversprechende Option kommt nun aus Belgien: Der Rüstungskonzern Thales hat mit der FZ275 LGR-Rakete ein System entwickelt, das speziell auf die Bekämpfung von Shahed- und Geran-Drohnen ausgerichtet ist.
Die Kostenfrage spielt bei der Drohnenabwehr eine entscheidende Rolle. Nach Angaben des britischen Fachblogs UAS Vision kostet eine einzelne FZ275 LGR-Rakete unter 10.000 US-Dollar.
Thales Belgium plant, bis Ende 2025 etwa 3.500 dieser Raketen zu produzieren und hofft, die jährliche Produktionskapazität bis 2026 auf 10.000 Stück zu steigern. Der FZ123-Sprengkopf besteht aus etwa einem Kilogramm Sprengstoff, der Stahlkugeln radial verteilt und eine Splitterwolke mit einem Durchmesser von rund 24 Metern erzeugt – theoretisch ausreichend, um eine Geran-Drohne zu zerstören.
Die Raketen sind mit Nato-Standard-70-mm-Startvorrichtungen kompatibel, einschließlich des Vampire-Luftverteidigungssystems. Sie können auch von modernisierten sowjetischen Mi-8-Hubschraubern aus abgefeuert werden, die im ukrainischen Dienst stehen.
Zusätzlich versucht die ukrainische Führung, ihre kritische Energieinfrastruktur baulich zu härten. Wie auf dem X-Kanal Maks_NAFO_FELLA zu sehen ist, werden anscheinend Umspannwerke mit Hesco-Schanzkörben oder gleich mit bunkerähnlichen Betonstrukturen umwallt. Über den Betonstrukturen bringt die Ukraine zusätzliche Fangnetze an.
Fazit: Das Eingeständnis einer Rüstungsphilosophie
Die Entwicklung der Artemis-Drohne offenbart die Rückkehr der Materialschlacht im digitalen Zeitalter und die strategische Wirksamkeit der attritionellen Kriegführung (Abnutzungskrieg). Russland setzt auf eine Ökonomie der Kosten: Die Geran-Drohne ist eine billige, aber effektive Waffe, die den Gegner ökonomisch ausbluten soll. Jede Abwehrrakete, die auf eine Geran geschossen wird, kostet den Verteidiger ein Vielfaches des Angreifers.
Die scheinbar “low-tech”-Massenware der Geran-Drohne hat sich offenbar als so wirksam erwiesen, dass sich der technologisch überlegene Westen gezwungen sieht, in dieses Rüstungssegment nachzuziehen.
Der kriegstechnische Erfolg aus russischer Sicht liegt also darin, eine kostenoptimierte Standardlösung gefunden zu haben, die den Westen zwingt, seine hochtechnologische, aber teure und langsam produzierte Rüstungsphilosophie in Frage zu stellen. Die Artemis ALM-20 ist die direkte Antwort auf diese Herausforderung.
Die Artemis ALM-20 ist somit das technologische Symptom eines gescheiterten politischen Dialogs. Während sie militärisch als Eingeständnis gewertet werden kann, dass sich der Westen auf die Logik des Abnutzungskrieges einlässt, unterstreicht sie vor allem die Unfähigkeit der politischen Akteure, eine Deeskalation einzuleiten.
Aus einer friedenspolitischen Perspektive ist diese Entwicklung eine verheerende Verfestigung des Konflikts: Jede weitere Drohne, ob russisch oder westlich, zementiert die militärische Konfrontation und versperrt den Weg zu jener diplomatischen Lösung, die die einzig wahre Alternative zur endlosen Eskalation darstellt.
