Was haben wir alle gezittert – als The Chinese Room das Heft von Hardsuit Labs in die Hand genommen hat. Seither spielt ein hartnäckiger Gedanke in den Köpfen von Blutsauger*innen Pingpong: Würde es den für ihr starkes Story-Spiel Still Wakes the Deep bekannten Briten gelingen, den Kultklassiker Bloodlines von Troika Games würdevoll zu beerben?
Nach fast 40 Spielstunden, bis zum letzten Tropfen ausgesaugten Blutbeuteln, und dem Bewusstsein dafür, dass Vampire: The Masquerade – Bloodlines 2 die Erwartungshaltung der Fans im Nacken sitzt, habe ich als Liebhaber des Originals eine Antwort gefunden. Eine von Bissspuren übersäte, mit Kainsmal gebrandmarkte, über und über mit Blut besudelte Antwort, für die mir Rollenspiel-Puristen an die Gurgel gehen könnten. Aber fangen wir vorne anfangen – oder besser: bei meiner Phyre.
Vampire: The Masquerade – Bloodlines 2 im Test
Ein Feuer brennt in Seattle – denn die US-Metropole gilt nicht nur als Welthauptstadt jenes schwarzen Golds namens Kaffee. Nein, in Vampire: The Masquerade – Bloodlines 2 wüte ich als wahlweise weiblich oder männlich aussehende*r Vampir*in mit dem anspielungsreichen Namen Phyre durch das nächtliche Seattle. Doch bevor ich mich unter die Blutsauger-Bande – oh, Pardon! – die ehrenwerten Kainskinder mische, erstmal das kleine Einmaleins für all jene, die ihren Mitmenschen nicht ständig am Nacken hängen.
Um nicht direkt bei Eva und Adam anzufangen – aber doch mit Blick auf die Grundpfeiler, auf denen Bloodlines steht: World of Darkness ist ein komplexer Rollenspiel-Kosmos, bestehend aus Tabletop-Games, Kartenspielen, Videospielen und anhängigem Merch-Kokolores. Alles, was ihr für den Einstieg in Bloodlines 2 wissen müsst, ist allerdings, dass sowohl Bloodlines als auch jetzt sein Nachfolger zwei Komponenten zusammenführt, die sich eigentlich – Witz, komm‘ raus! – beißen:
Unsere urbane, technologisierte, von Rationalität geprägte moderne Welt – und jener Schattenwelt, in der Vampire & Co. weitestgehend unerkannt von der Weltöffentlichkeit, in einem eigenen, sektenartigen Machtsystem die Geschicke lenken. Na, faltet ihr schon euren Aluhut? Ernsthaft: Diese Welt der Finsternis ist unheimlich gut gebaut – aber auch unfassbar überkomplex. Da wären etwa die Anarchen, die sich der Freiheit verschrieben haben, oder die Hauptsekte Camarilla, welche eine Law and Order-mäßige Weltanschauung vertritt, mit Argusaugen über die titelgebende Masquerade wacht – womit wir mittendrin in Bloodlines 2 wären.
In Vampire: The Masquerade – Bloodlines 2 (schade, dass kein Semikolon in den Titel gepasst hat!) erwache ich nach einem jahrhundertelangen Nickerchen im Seattle des 21. Jahrhunderts als Die Nomadin – erlebe also zuallererst einen klitzekleinen Kulturschock. Einerseits. Andererseits ist da noch diese Stimme eines fremden Mannes in meinem Kopf. Was in unserer Welt ein Fall für den Murmeldoktor wäre, entpuppt sich in Bloodlines 2 als Detektiv Fabien, der einfach so mietfrei im Kopf meiner Heldin lebt – und offenkundig, wie der so mit kessen Sprüchen um sich wirft, einen Humphrey Bogart-Film zu viel gesehen hat. In diesem protagonistischen Duo liegt sogleich die große spielerische Stärke als auch Schwäche von Bloodlines 2 begraben …
A New Vampyre Story
Bereits während seiner ersten Sekunden stemmt Bloodlines 2 sein erzählerisches Pfund bravourös – eröffnet Fragen, die nach Antworten lechzen: Wieso (und von wem) wurde meine Nomadin, aka Phyre, aka Superhelden-Vampirin-mit-coolem-Ledermantel aus dem längsten Powernap der Weltgeschichte gerissen? Was im Namen des Prinzen hat es mit dem lila leuchtenden Brandmal auf ihrem Handrücken auf sich? Und was bitte sucht der Sprüche klopfende Fabien in meiner Denkmurmel? Der Einstieg von Bloodlines 2 ist stark, klappert genug W-Fragen ab, um meine Aufmerksamkeit zu fesseln … ähm, aufzusaugen, natürlich.
Wer eine unterkomplexe Der-Gärtner-war’s-Story erwartet, wird – und das ist auch gut so! – enttäuscht. Zu viele, sich spinnefeind gegenüberstehende Clans gibt es in Bloodlines 2. Zu zahlreiche Erzählebenen wild auf dem Zeitstrahl verteilt. Noch und nöcher Möglichkeiten, wie man’s sich mit einer unbedacht gewählten Antwortoption mit bestimmten Fledermaus-Gruppierungen verscherzen kann, als dass hier narrative Einfachheit an der Tagesordnung stünde. Stellt euch eher darauf ein, im Kopf dreidimensionales Schach zu spielen, während ihr abwägt, welche Antwortoption welche der im Raum anwesenden Clan-Mitglieder vor den Kopf stoßen könnte.
Das betrifft wohlgemerkt ausschließlich den Story-Verlauf – nicht die Spielwelt, oder wie Leute darin auf einen reagieren. Aber ich vom Hundertsten ins Tausendste kommen: Wie ist die Spielwelt von Bloodlines 2 eigentlich aufgeteilt – und vielleicht noch wichtiger ist die Frage nach der Größe. Die kurze Antwort: Die Map ist klein, der Grad an Erforschbarkeit auffallend überschaubar – aber, und das ist auffällig, Langeweile kam bei mir dessen ungeachtet keine auf. Falls ihr hingegen eine Open World-Wundertüte vom Schlage eines Cyberpunk 2077 oder The Elder Scrolls erwartet, werdet ihr enttäuscht sein.
Für mich, der ich mitnichten diesen Immermehrismus offener Spielwelten goutiere, reicht die kompakte Bloodlines 2-Map absolut aus. Die in ihren Dimensionen überschaubare Spielwelt setzt sich aus fünf Stadtteilen mit markanten, ihnen eigenen Hotspots zusammen. Da wäre die Großraumdiscothek Atrium, das Nobelhotel The Glacier, der Buchhandlung-Slash-Coffeeshop Wake the Dead, der an den Trump Tower erinnernde Wolkenkratzer Weaver Tower, und … beispielsweise etwa einen Pfandleiher mit anhängigem Hinterzimmer.
Womit das virtuelle Seattle genau auffährt, erfahrt ihr auf Seite zwei.
