Verborgene Moderne in Wien: Tote Seelen mit dem Netz der Leinwand einfangen

Mittlerweile hat es sich herumgesprochen, dass schon knapp zwanzig Jahre vor der Moderne eines Picasso und Kandinsky im zwanzigsten Jahrhundert eine erste, dunklere, von alter Kunst befeuerte Europa erfasste. Das Museum Leopold in Wien nennt sie die „Verborgene Moderne“.

Dass die forcierte Industrialisierung, der besinnungslose Boom der Gründerzeit und deren hemmungsloser Materialismus, auch die Zumutungen der Großstadt vor allem für die per Landflucht in die Metropolen Gespülten viele Menschen um 1900 hoffnungslos überforderte, ist nachvollziehbar. Im harmlosen Fall entwickelten sich daraus gesellschaftliche Ausgleichsbewegungen wie ein spirituell aufgeladenes „Zurück zur Natur“, die Gartenstadt-Idee, Freikörperkultur und gegen den Dreck und Lärm der Megalopolen gerichtete Frühformen ökologischer Reformbewegungen inklusive Vegetarismus und Esoterik, mithin eine im Grunde antimoderne Moderne. Im Negativfall gebaren die Träume vom völkisch-antimaterialistischen neuen Menschen und nationalistisch-eskapistische Fluchtbewegungen Quer- und Rechtsdenker wie Jörg Lanz von Liebenfels, einen der Stichwortgeber Hitlers, Himmlers und vieler anderer Nationalsozialisten, was eine Wiener Ausstellung weder verschweigen kann noch wagen würde. Dazwischen liegt das zwielichtige Reich des Okkulten, dem besonders in Wien zahlreiche hypersensible Künstler frönten.

In den Köpfen Munch, Schiele, Klimt oder Hodler kreisten wilde Ideen

Ebenso deutlich aber macht die Schau, dass diese antimoderne Moderne keinesfalls nur von „Spinnerten“ wie dem Nacktmaler und Sonnenanbeter Fidus, bürgerlich Hugo Höppener, dem Theosophen Friedrich Eckstein oder dem Maler Albert von Keller verkörpert wurde. Vielmehr waren auch die Großen wie Edvard Munch, Egon Schiele, Gustav Klimt, Wassily Kandinsky, Fernand Khnopff oder Ferdinand Hodler, in der Musik Richard Wagner, in der Philosophie Nietzsche und in der Literatur Rilke anfällig für schräge und obskure Ideen.

Das zeigt allein die Masse der im Leopold Museum nun gezeigten 180 Werke von insgesamt 85 Künstlern von den Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts bis in die Dreißigerjahre hinein. Rilkes Aufruf „Du musst dein Leben ändern!“ wurde zur Maxime vieler, die im Fin de siècle nach einem Ausstieg und im neuen Menschen eine Alternative zum abgehalfterten alten Homo insipiens des Materialismus und Historismus sahen. Es ist die aktuell anmutende, alpine Parallelbewegung zu Paul Gauguins Flucht in die Südsee und seinem dort entstandenen Bild „Woher kommen wir, wer sind wir, wohin gehen wir?“.

Die Allegorie der Telegraphie ist eher eine der Telepathie

Der erste Saal stimmt daher mit den österreichischen Bildern „Allegorie der Telegraphie“, „Kreislauf des Lebens“ von Hans Canon aus dem Jahr 1885 und Adolf Hirémy-Hirschls „Die Seelen am Acheron“ von 1898 auf das Thema ein. Würde man bei einer Personifizierung der Telegraphie, die Canon nach der in Wien präsentierten Ölstudie im monumentalen Maßstab für den Karlsruher Hauptbahnhof ausführte, doch moderne Drähte und eine Feier der Technik erwarten, geht der Maler mit seiner an Michelangelos Sixtina-Sibyllen angelehnten nackten „Telegraphia“ zurück in die Renaissance und ins rein Spirituell-Telepathische, ebenso mit den michelangelesken nackten Leibern in seinem geschichtspessimistischen „Kreislauf des Lebens“. Erst recht atmet Hirémy-Hirschls mythologisch-germanisches Stück der toten Seelen der Unterwelt mit einem düsteren Hermes Trismegistos den Geist Wagners, dem besonders viel Raum in der Schau gegeben ist. Neben seinen erschreckenden antisemitischen Tiraden war er ja auch ein Prediger des Ausgleichs und der Nächstenliebe, ein Erfinder neuer Töne und ein Reformer in Sachen Gesamtkunstwerk, der gern Buddhistisches mit Germanischem paarte und damit die ideologische Grundlage der paradox Manufactum-handarbeitenden Wiener Avantgarde-Werkstätten, der Secession und besonders von Klimt schuf.

Schlagend wird das an Architekturmodellen wie Joseph Maria Olbrichs Secessionsgebäude gezeigt, bei dem der Schriftsteller Hermann Bahr die Initiation via Vorhalle und der goldenen Lorbeer-Weltenesche als Lebensbaum in Form der Kuppel auf dem Hauptbau explizit als „Tempel der Kunst“ definierte. Eigentlich säkulare Gebäude wie Otto Wagners geplante Ehrenhalle der Neuen Akademie der Bildenden Künste in Wien oder das Bayreuther Festspielhaus werden sakral aufgeladen, sie sollen das Hehrste vom Himmel auf die Erde bringen. Eduard Veiths „Alberich und die Rheintöchter“ als Anti-Gollum entwendet den Holden das Gold, um die Weltenbalance wiederherzustellen. Ebenso deutlich spricht das Wagnerianische aus den Bildern eines der Hauptvertreter der Wiener Secession, Koloman Moser, der im Stil zwar eng bei seinem Schweizer Vorbild Ferdinand Hodler bleibt, doch in Inhalt und Bildtiteln wie „Der Liebestrank (Tristan und Isolde)“ von 1913/15, „Der Wandler“ von 1914 wie auch „Wotan und Brunhilde“ von 1916, gleichermaßen von Nietzsches Zarathustra und „Übermenschen“ wie durch Wagners Siegfried-Figur geprägt ist.

Die Reformer um 1900 waren keine Armenbewegung

An Gold und Luxus wurde bei alldem nicht gespart, die Reformer um 1900 sind keine Bettelmönche. Der aus München nach Wien umgesiedelte Maler Karl Wilhelm Diefenbach, der FKK, Alkohol- und Fleischverzicht sowie eine naturnahe Lebensweise propagiert, gründet als Guru in Wien gleich zwei Kommunen, beide in Villen. Reich wird er ironischerweise mit dem sich glänzend verkaufenden Leporello „Per aspera ad astra“, „Durch Raues zu den Sternen“. Zu seinen Gefolgsleuten gehörten unter anderem der steinreiche spätere Schiele-Mäzen Arthur Roessler und einer der frühen Abstrakten, František Kupka, aber auch der Künstler Gusto Gräser, der die legendäre Reformkommune „Monte Verità“ mitbegründete. Sein für diesen mythischen Berg der Wahrheit gemaltes Hauptwerk „Der Liebe Macht“ von 1898/99 mit den turtelnden Stammeltern Adam und Eva und Einhörnern ist zum ersten Mal überhaupt aus der Proto-„Kommune 1“ Monte Verità ausgeliehen.

Viele der Bilder Diefenbachs wie „Die Erscheinung – Siderischer Körper“, also „Sternenkörper“ (kurz nach 1900) oder Fidus’ „Lichtgebet“ von 1894 werden von den Gesten im Bogen nach oben gen Himmel gerichteter Arme bestimmt, dem antiken Orantengestus, der nun häufig von nackten Jünglingen vollzogen wird. Gleiches gilt aber auch für Oskar Kokoschkas „Bildnis der Bertha Eckstein-Diener“ von 1910, die zwar unvollendet ist, doch mit dem Leinwandweiß ihres Nonfinito-Körpers und den empfangenden Gesten ihrer Arme noch vergeistigter wie ein Medium in Aktion wirkt. Nicht von ungefähr: Bertha war die Frau des Universalgelehrten Friedrich Eckstein, Gründer der Wiener Loge der Theosophischen Gesellschaft, die mystisch-religiöse und spekulativ-naturphilosophische Denkansätze zu einem „wissenschaftlichen Okkultismus“ vereinen wollte. Zwar drangen auch die Lehren der russlanddeutschen Theosophin Helena Blavatsky nach Wien; Ecksteins okkultes Netzwerk jedoch war dichter und weitreichender: Gustav Mahler und der nachmalige Anthroposoph Rudolf Steiner gehörten ebenso dazu wie der Mitbegründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Victor Adler, der Mathematiker Oskar Simony oder die Frauenrechtlerin Marie Lang. Alle sind sie in einer Art Galerie der Esoterik-Empfänglichen mit hervorragenden Porträts vertreten.

Richard Gerstls Kopf und Körper glühen vor innerer Energie

Aber auch bei den anderen Medien und Mittlerinnen zwischen dem Reich des Übersinnlichen und der vielen Menschen zu prosaischen Welt begegnet man in dieser Zeit wiederholt Aura-Malerei wie bei Richard Gerstls aus Kopf und Körper tretenden Nimbus und Gesten der Ekstase in der Tradition von Berninis Heiliger Theresa in Rom. Selbst Edvard Munchs „Schrei“ zehrt noch von einer solchen exaltierten Geste, wobei hier, wie der Aufschrift des Bildes in Wien zu entnehmen ist, nicht etwa der Mensch, sondern die gesamte Natur und Welt markerschütternd schreit. Dass der Komponist Arnold Schönberg, tief geprägt durch Munchs vom Weltgeist durchdrungenen Landschaften, eigentlich Maler werden wollte, ist ebenso bekannt wie die Bestimmung der frühen Abstraktionen eines Wassily Kandinsky, im Leopold durch die schwerelos schwebende „Landschaft mit Kirche und roten Flecken“ von 1913 vertreten, Kupka und Johannes Itten durch spirituell-okkultistisches Gedankengut, was sich im Fall Ittens im Bauhaus zur rassistisch eingefärbten Mazdaznan-Lehre auswächst. Fesselnd übersinnlich im positiven Sinn sind Gertrude Rheinberger-Brausewetters expressiv theosophische Schwarz-Weiß-Holzschnitte, die belegen, das gleich ab Beginn der Abstraktion auch Künstlerinnen mitmischten.

Wegen der insgesamt mindestens neun Millionen Gefallenen des Ersten Weltkriegs boomten von 1918 an die Versuche, mit den gefühlt massenhaft unerlösten toten Seelen in Séancen Kontakt aufnehmen zu wollen. Okkulte, seelenwarme Praktiken laufen in der Kunst der Zwanziger subkutan weiter, oft als Ausgleich zu den parallelen Kältekulten etwa eines Ernst Jünger. Im harmlosen Fall. Im negativen münden sie direkt in die völkische-esoterische Gemengelage des NS. Doch handelt es sich dabei weder mehr um eine verborgene noch um eine Moderne überhaupt.

Am Ende stehen Zanders Fitnessfoltermaschinen neben Bergsteigerschuhen und Öko-Klamotten

Die letzten Säle sind noch einmal besonders aufschlussreich, da sie Neues statt Altbekanntem präsentieren. Analog zu des Frühstücksflockenerfinders Kelloggs Fitnessfoltermaschinen in Amerika ging man in Wien um 1900 „zandern“, benannt nach dem Arzt und Fitnessapostel Gustav Zander, oder gleich in Öko-Kleidung bergsteigen wie Hodler & Co, um die gesunde Seele zu erheben (Nietzsche: „Ich bin ein Bergsteiger“). All diese Höhenflüge der Paramodernen vor Augen geführt zu haben, ist das große Verdienst dieser so abseitigen wie außergewöhnlichen Schau.

Verborgene Moderne. Faszination des Okkulten um 1900. Leopold Museum, Wien; bis 18. Januar 2026. Der Katalog kostet 39,90 Euro.

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