Frau Queisser, in Frankreich setzt die Regierung die hoch umstrittene Rentenreform aus, um ihren Sturz abzuwenden, und in Deutschland bahnt sich ein Verteilungskampf um die Rente an. Welchen Ländern ist es trotz demographischen Wandels gelungen, die gegensätzlichen Interessen der Generationen in Einklang zu bringen?
Wie so oft geht der Blick bei Erfolgsgeschichten in die nordischen Länder. Schweden hat Ende der Neunzigerjahre eine Strukturreform durchgeführt, die das ganze System geändert hat. Seither wird jeder Rentenbeitrag in einem individuellen Alterskonto fiktiv mit dem Lohnwachstum verzinst. Das System funktioniert weiter nach dem Umlageverfahren, aber es ist so, als ob man echtes Geld angespart hätte. Jeder zahlt also mehr oder weniger für seine eigene Rente.
Und den Schweden ist damit tatsächlich gelungen, ein beitragsfinanziertes System im Gleichgewicht zu halten?
Das schwedische Rentensystem besteht noch aus weiteren Komponenten wie einer steuerfinanzierten Garantierente, kapitalgedeckten Betriebsrenten und einer kapitalgedeckten Zusatzrente, bei der jährlich 2,5 Prozent des Bruttolohns in richtige Konten investiert werden. Auch dort gibt es keinen Idealzustand. Aber ich habe den Eindruck, dass gerade in den nordischen Ländern intergenerationelle Solidarität stärker im Bewusstsein der Gesellschaft verankert ist. Dort versteht man besser, dass man, wenn man länger lebt, auch länger arbeiten muss. Und speziell in Schweden gab es nicht nur diese Großreform, sondern justiert die Politik seither permanent nach. Man hat den Leuten nicht das Gefühl gegeben, jetzt sei alles vorbei. Das ist vielleicht Teil des Erfolgsgeheimnisses.
Könnte Deutschland das schwedische Modell eins zu eins kopieren?
In Schweden gab es bei der Reform einen großen Reservefonds im staatlichen Rentensystem. Das macht eine solche Umstellung natürlich einfacher. Deutschland müsste Schweden aber gar nicht kopieren, denn es hat schon ein Punktesystem, das den fiktiven Alterskonten ähnelt. Man erwirbt mit jedem Beitrag in der Deutschen Rentenversicherung Punkte, die später die Höhe der Bezüge bestimmen. Das ist im Prinzip schon ein vergleichbar gutes System.
Es ist allerdings in hohem Maße defizitär. Seit einigen Jahren ist ein dreistelliger Milliardenzuschuss aus dem Bundeshaushalt notwendig, um das Rentensystem finanziell im Gleichgewicht zu halten. An welcher Stelle sollte die Politik zum großen Wurf ansetzen?
Ich wundere mich manchmal ein bisschen, wenn in Deutschland gesagt wird, dass jetzt eine große Rentenreform hermuss, um das demographische Problem zu lösen. Das Problem der alternden Babyboomer ist nicht wirklich zu lösen. Es gibt nicht die eine Rentenreform, durch die auf einen Schlag alles viel weniger kostet. Die Babyboomer sind da, altern und haben sich durch ihre Beiträge bestimmte Renten verdient . . .
. . . deren jährliche Steigerung in den vergangenen Jahren aus politischen Gründen aber womöglich höher ausfiel, als es die Kassenlage erlaubte.
In der Tat ist die Stellschraube, an der auch andere Länder in vergleichbarer Situation gedreht haben, die langsamere Anhebung der Rentenbezüge. Dafür gibt es in Deutschland ja eigentlich den Nachhaltigkeitsfaktor, der 2019 ausgesetzt wurde. Bisher hat das wegen der guten Beschäftigungsentwicklung kaum Auswirkungen gehabt. In den kommenden Jahren fiele der Rentenanstieg mit dem Nachhaltigkeitsfaktor allerdings deutlich geringer aus als das Lohnwachstum. Und sicherlich kann man das Renteneintrittsalter wie andere Länder an die Lebenserwartung koppeln, wobei das neue Probleme aufwirft, da nicht alle Menschen länger in guter Gesundheit leben. Aber noch mal: Wir sind jetzt nun mal in dieser demographischen Lage. Schuldzuweisungen helfen nicht weiter. Die Babyboomer sind nicht böse und haben alle anderen ausgebeutet, und die meisten freuen sich ja auch, dass ihre Eltern noch da sind. Wenn man den Leuten erklärt, dass es nicht die eine große Rentenreform gibt, die das Problem aus der Welt schafft, dann fiele es den Leuten vielleicht auch leichter, das längere Arbeiten zu akzeptieren.
Wenn aber eh schon mehr als 100 Milliarden Euro aus dem Staatshaushalt in das System fließen, könnte man da nicht gleich auf eine vollständige Steuerfinanzierung umstellen?
Das wäre eine sehr radikale Reform, die man sich angesichts des in Deutschland beherzigten Äquivalenzprinzips sehr schwer vorstellen kann. Wer höhere Beiträge zahlt, soll ja auch eine höhere Rente bekommen. Renten werden im Allgemeinen in solchen Ländern aus Steuern finanziert, in denen jeder dasselbe bekommt. Dazu gehören die Niederlande und Neuseeland. Dabei handelt es sich aber immer nur um Grundrenten in moderater Höhe. Deshalb haben diese Länder alle eine ergänzende kapitalgedeckte Altersvorsorge, die entweder subventioniert wird oder verpflichtend ist.
Die kapitalgedeckte Altersvorsorge hat in Deutschland und Frankreich traditionell einen schweren Stand. Wie sinnvoll ist sie?
Die Länder, die früh angefangen haben mit einer kapitalgedeckten Rente zusätzlich zur umlagefinanzierten Rente, vielleicht noch ergänzt um die Förderung der privaten Vorsorge, haben heute natürlich eine sehr viel bessere Ausgangssituation. Sie müssen nicht die Beiträge oder Steuern erhöhen, wenn die Bevölkerung altert. Sie können die Kapitalreserven sukzessive auflösen und damit den demographischen Wandel finanzieren.
Lässt sich aber auch genau quantifizieren, wie viel besser diese Länder dastehen, die früh auf eine Kapitaldeckung gesetzt haben?
Das ist schwer. Es gibt jedoch ein paar Punkte, die uns bei der OECD immer wichtig waren. So ist positiv an den Modellen etwa in Schweden, den Niederlanden und der Schweiz, dass ihre kapitalgedeckten Renten kollektiv verwaltet werden. Dort steht der einzelne Alterssparer nicht allein Finanzdienstleistern gegenüber und muss deren Produkte und Preise vergleichen. Auch die Verwaltung von kapitalgedeckten Renten ist viel günstiger, wenn man es kollektiv macht. Es ist ein weitverbreiteter deutscher Irrtum, dass kapitalgedeckt gleich individuell bedeutet. Und es gibt ja auch in Deutschland Modelle, in denen sich Sozialpartner für eine kapitalgedeckte Altersvorsorge zusammengetan haben, etwa die Metallrente.
In Frankreich trägt auch die „contribution sociale généralisée (CSG)“ genannte Abgabe zur Finanzierung des Rentensystems bei, die unter anderem auf Miet- und Kapitaleinkünfte fällig wird. Ist das ein Vorbild für Deutschland?
Die in den Neunzigerjahren eingeführte CSG zeichnet Frankreich aus. Für das Gerechtigkeitsgefühl halte ich eine solche Abgabe für sinnvoll – erst recht, wenn man wie in Deutschland versucht, die Beitragssätze niedrig zu halten. Es ist doch nur fair, dass jemand auch von seinen Mieteinkünften für die soziale Sicherung zahlt.
Wie bewerten Sie die Aktivrente, mit der die Bundesregierung einen steuerfreien Hinzuverdienst in der Rente von bis zu 2000 Euro monatlich ermöglichen will? Hat sich ein solches Modell schon einmal irgendwo bewährt?
Es gibt viele Länder, die versuchen, längeres Arbeiten zu belohnen. Das können Steuerbefreiungen oder höhere Rentenbezüge sein. Das ist im Prinzip eine übliche und in Deutschland sicherlich auch richtige Maßnahme, vor allem weil die dortige Minijobregelung die Arbeitsmarktbeteiligung älterer Leute offensichtlich gebremst hat. Wie immer bei solchen Maßnahmen gibt es Mitnahmeeffekte. Wie hoch dieses Risiko ist, lässt sich wissenschaftlich nur schwer herauskriegen, weil man nie genau weiß, wie viele Leute sowieso länger gearbeitet hätten.
Auch wenn Sie sagen, dass es als Antwort auf den demographischen Wandel nicht die eine Wundermaßnahme gibt: Welche sozialpolitischen Handlungsempfehlungen gibt es allgemein, um Reformen erfolgreich durchzusetzen?
Wir haben bei der OECD Studien durchgeführt, die zeigen, dass zum Beispiel ein klares Mandat wichtig ist. Die Leute dürfen nicht überrascht werden, wenn eine Regierung oder eine Partei plötzlich eine Reform auf den Weg bringt. Die Chancen, dass diese erfolgreich ist, sind sehr viel höher, wenn man das Vorhaben angekündigt hat. Zudem muss man die Notwendigkeit gut erklären und eine Reform wissenschaftlich begleiten. Auch eine starke Kohäsion innerhalb der Regierung ist nötig. Gerade das ist durch die zersplitterte politische Landschaft allerdings überall in Europa immer weniger gegeben. Die berühmte schwedische Reform war das Produkt von jahrelangen Debatten zwischen fünf verschiedenen Parteien. Sie haben alle Differenzen ausgebügelt und sich dann dazu verpflichtet, diese Reform zu unterstützen.
