Was hier geschieht, ist kein Zufall

Tagesanbruch

Was hier geschieht, ist kein Zufall

Liebe Leserin und lieber Leser,

die USA sind nach beinahe 250 Jahren noch immer eine bemerkenswerte Demokratie mit weitgehend funktionierenden Institutionen, freier Presse und gewählten Repräsentanten. Donald Trump wurde mit großer Mehrheit zum Präsidenten gewählt – und viele seiner Wähler sagen: Er tut nur, was er versprochen hat. Sie wählten ihn nicht trotz, sondern wegen seiner Ankündigungen.

Trump liefert beim Thema Massenabschiebungen. Die illegalen Grenzübertritte sind auf einem Rekordtief. Er hat das Budget der Einwanderungsbehörde ICE verdreifacht, lässt neue Haftzentren bauen und schickt Soldaten zur Unterstützung in die Großstädte. So weit, so konsequent, könnte man sagen.

Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich etwas, das immer weniger nach Demokratie aussieht. Maskierte Männer zerren Menschen in abgedunkelte Vans, teils ohne rechtsstaatliche Verfahren. Nationalgardisten patrouillieren durch Washington und Los Angeles, Memphis, Portland und Chicago, als wären es feindliche Territorien. San Francisco soll als Nächstes dran sein. Anwälte, Richter und politische Gegner werden eingeschüchtert, Journalisten verhöhnt und sanktioniert.

TAGESANBRUCH:Ihr morgendlicher Newsletter aus der SaboChefredaktion. Verschaffen Sie sich täglich einen Überblick über die Themen, die Deutschland bewegen.Jetzt kostenlos abonnieren

Hinzu kommt nun ein besonders beunruhigender Vorwurf. Kritiker sprechen zunehmend davon, dass Trump eine Art paramilitärische Privatarmee aufbauen würde.

Die Alarmglocken schrillen zurecht. Was dahintersteckt, ist zwar nicht der Aufbau einer klassischen Miliz. Der Plan wirkt subtiler, ist aber nicht weniger gefährlich: Die Trump-Regierung schafft schrittweise eine staatlich finanzierte, aber präsidial kontrollierte Gewaltstruktur, deren Loyalität nicht mehr der Verfassung oder dem Kongress gilt, sondern nur noch der Person an der Spitze des Staates.

Erkennbar wird dies an der finanziellen Umschichtung. Während klassische Strafverfolgungsbehörden ausgetrocknet werden, fließen Milliarden an als loyal angesehene Stellen wie die Einwanderungsbehörde ICE und die Polizeikräfte der US-Zoll- und Grenzschutzbehörde Border Patrol. Trumps gewaltiges Haushaltsgesetz, “One Big Beautiful Bill”, stellt über vier Jahre mehr als 170 Milliarden Dollar für Grenz- und Inlandssicherheit bereit. Das ist mehr als das Jahresbudget aller lokalen und bundesstaatlichen Strafverfolgungsbehörden zusammen.

Das Brennan Center for Justice warnt darum vor einem entstehenden “Abschiebungs-Industriekomplex”. Die amerikanische Nichtregierungsorganisation spricht von einer “einseitig auf Zwangsmaßnahmen ausgerichteten Maschinerie”, der kaum noch etwas entgegenzusetzen sei.

Diese Strategie funktioniert wie ein Loyalitätstest. Der Grund ist naheliegend: Bei lokalen oder bundesstaatlichen Polizeieinheiten hat der Präsident nichts zu melden. Und wie kompliziert der Einsatz von Nationalgarde oder Marines ist, zeigen die langwierigen Gerichtsprozesse zahlreicher Bundesstaaten gegen ihn. Denn einfach so ist es dem Präsidenten nicht erlaubt, die Soldaten gegen den Willen der Gouverneure dort einzusetzen. Trump aber will schnelle Erfolge. Sein Ziel: jährlich eine Million Migranten abschieben.

Um sein Millionen-Abschiebeziel zu erreichen, benötigt Trump viele neue Beamte. Die Regierung wird ungeduldig. Stephen Miller, Trumps ideologischer Architekt der Abschiebepolitik, beschwerte sich bereits bei den Behörden, weil sie “nicht genug deportieren”. Standards wie Altersgrenzen wurden nun gesenkt, um schneller an Personal zu kommen. Die Rekrutierungsstrategie von ICE orientiert sich offenkundig an der eigenen Klientel: Werbeplakate zeigen vorzugsweise weiße Menschen, die “die Heimat verteidigen” sollen. Andere zeigen Silhouetten von maskierten Männern mit Stahlhelmen und Trump am Maschinengewehr.

Das brutale Vorgehen der militant auftretenden ICE-Beamten kommt nicht von ungefähr. Trump sagte es selbst, als er etwa die Nationalgarde nach Washington schickte. Die Soldaten dürften “tun, was immer sie wollen”. Das ist zwar rechtlich nicht korrekt, aber es setzt den Ton, auch für andere Einheiten, die ebenfalls auf seinen Rückhalt zählen können. Wer in Trumps Sinne handelt, kann im Zweifel auf Begnadigung hoffen, sogar wenn das Kapitol wie 2021 mit Gewalt gestürmt wird.

Und es geht nicht nur gegen Migranten. Homeland-Security-Chefin Kristi Noem erklärte offen zum Einsatz in Los Angeles, Ziel sei, “die Stadt von den Sozialisten und ihrer belastenden Führung zu befreien” – gegen den Willen der Bürgermeisterin und des Gouverneurs dort. Das klingt nicht nach Recht und Ordnung, sondern nach einem Staatsstreich auf Ebene der Bundesstaaten.

Ob es bei den Abschiebezielen wirklich um Sicherheit geht, ist fraglich. Viel zu oft trifft es Frauen, Kinder, Kranke, Schwangere und Großmütter. Millionen undokumentierte Migranten arbeiten seit Jahrzehnten regulär, zahlen Steuern und Sozialabgaben, ohne Anspruch auf Leistungen.

An Trumps guten Absichten muss gezweifelt werden. Denn der Präsident konstruiert Krisen und Notstände, wo keine sind, um militärische Eingriffe zu rechtfertigen. Ein aktueller Fall vor dem Supreme Court könnte ihm nun endgültig freie Hand geben. Das Verfahren “Trump v. Illinois” wurde von der US-Regierung selbst angestrengt. Folgt die Mehrheit der obersten Richter seiner Argumentation, hätte Trump unbeschränkte Macht, Truppen überallhin zu schicken und gegen jeden einzusetzen – auch gegen Amerikaner.

Genau das wollten die Gründerväter verhindern. Das sogenannte Posse-Comitatus-Gesetz von 1878 untersagt dem Präsidenten, das Militär im Inland als Polizei einzusetzen. Trump betrachtet das offenbar als lästiges Hindernis. In seiner Rede vor 800 US-Generälen in Quantico argumentierte er jüngst: “Es ist ein Krieg von innen.” Er machte mehr als deutlich: Für ihn sind politische Gegner und Migranten “Feinde im Innern”. Deren Bekämpfung werde zumindest für einige der Generäle “ein wichtiger Teil” ihrer Arbeit sein, so Trump.

Die rechtlichen Hürden scheinen eine nach der anderen zu fallen. Der Supreme Court hat unter anderem auch mehrere Möglichkeiten praktisch abgeschafft, Bundesbeamte für ihr Vorgehen zu verklagen. Trumps maskierte Männer von ICE müssen darum kaum noch Konsequenzen fürchten.

Parallel dazu verschmelzen auch die Strukturen im US-Militär mit innenpolitischen Zielen. Verteidigungsminister Pete Hegseth hat loyale Generäle befördert und Kritiker entlassen. Unliebsame Rechtsberater des Militärs, Juristen, die früher “Nein” gesagt hätten, werden entfernt. Trumps Ziel sind Befehlsketten, in denen ihm niemand mehr widerspricht.

In den USA entsteht keine herkömmliche Privatarmee nach dem Vorbild anderer Diktaturen. Aber es entsteht eine gefährliche Hybridstruktur unter präsidialer Führung: ICE und Grenzschutz als ausführende Organe für politische Ziele, die Nationalgarde als militärische Reserve zur Absicherung und ein umgestaltetes Pentagon als Kriegsministerium, das jederzeit auch gegen innere Feinde losschlagen können soll.

Was als konsequente Einwanderungspolitik verkauft wird, entwickelt sich zu einer systematischen Aushöhlung demokratischer Kontrolle. Die amerikanische Demokratie steht darum nicht vor einem lauten Putsch, sondern befindet sich mitten in einem schleichenden Prozess der Machtkonzentration beim Präsidenten. Dies droht, die demokratischen Fundamente von innen heraus nicht minder zu erschüttern.

Was steht an?

In Brüssel beginnt der EU-Gipfel. Themen sind von der EU-Kommission vorgeschlagene Aufrüstungsprojekte und die mögliche Nutzung von festgesetzten Geldern der russischen Zentralbank für die Ukraine.

In Budapest findet der sogenannte “Nationale Marsch” statt. Mit der Demonstration läutet der Orbán-Herausforderer Péter Magyar seine Kampagne für die kommende Parlamentswahl im April 2026 ein.

Der britische König Charles III. und Königin Camilla sind zum Staatsbesuch im Vatikan. Dort treffen sie Papst Leo XIV. zu einer Audienz und zum anschließenden gemeinsamen Gebet in der Sixtinischen Kapelle.

Das historische Bild

1940 ließ Spaniens Diktator Adolf Hitler warten. Mehr lesen Sie hier.

Lesetipps

Wie soll die Union am besten mit der AfD umgehen? Darüber hat sich unser Politikchef Christoph Schwennicke in seiner Kolumne Gedanken gemacht. Lesewarnung vorab: Für Ex-Generalsekretär Ruprecht Polenz und die Seinen wird das eine harte Lektüre.

In der Ukraine steht der nächste Kriegswinter bevor. Dieses Mal könnte er für die Zivilbevölkerung besonders hart werden. Grund dafür ist nicht nur eine neue Taktik der russischen Armee, berichtet mein Kollege Simon Cleven.

Der Luftraum ist für die moderne Kriegsführung von entscheidender Bedeutung. Eine neue Analyse zeigt jetzt, worauf es für Kriegsländer ankommt, um hier überlegen zu sein, schreibt meine Kollegin Nilofar Breuer.

Das Treffen zwischen US-Präsident Donald Trump und Kremlchef Wladimir Putin in Budapest ist vorerst geplatzt. Warum Russland damit einmal mehr ein strategisches Ziel erreicht hat, analysiert mein Kollege Patrick Diekmann.

Ohrenschmaus

Erinnern Sie sich noch an die fabelhafte Welt der Amélie? Die Musik von Yann Tiersen zu diesem fantastischen Film von 2001 ist wahrscheinlich fast noch bekannter. Die Zeit damals wirkte übersichtlicher und ließ Platz für Träume. Neulich habe ich irgendwo einen ganz neuen Song von einem peruanischen Komponisten mit dem Namen Claudio Constantini aufgeschnappt. Der Stil hat mich sehr daran zurückerinnert. Hier können Sie rund zwei Minuten träumen.

Zum Schluss

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag. Morgen schreibt an dieser Stelle mein Kollege David Schafbuch für Sie.

Ihr

Bastian Brauns

Washington-Korrespondent

Twitter @BastianBrauns

Was denken Sie über die wichtigsten Themen des Tages? Schreiben Sie es uns per E-Mail an [email protected].

Mit Material von dpa.

Den täglichen Tagesanbruch-Newsletter können Sie hier kostenlos abonnieren.

Alle Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier.

Alle Nachrichten lesen Sie hier.

Weitere interessante Artikel:

Related Post

Leave a Comment