Seit Juli 2023 ist die Abnehmspritze Wegovy in Deutschland erhältlich – und hat einen regelrechten Boom ausgelöst. Mit Mounjaro gab es wenige Monate später eine Weiterentwicklung, die sogar noch wirksamer ist. Die Aussicht auf schnellen, medikamentösen Gewichtsverlust zieht viele an und beschert den Pharma-Herstellern Milliardenumsätze. Doch was steckt wirklich hinter dem Hype? Wie wirkt das Mittel, für wen ist es geeignet, und wo liegen Risiken? Unser Experte Prof. Jens Aberle ist Facharzt für Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) sowie ärztlicher Leiter des universitären Adipositas-Centrums. Er gibt uns eine Zwischenbilanz und Zukunftsausblick der Abnehmspritze.
Sabo: Herr Prof. Aberle, seit zwei Jahren können stark übergewichtige Menschen in Deutschland die Abnehmspritze verschrieben bekommen. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Prof. Jens Aberle: Anfänglich war die Nachfrage sehr groß, viele wollten das ausprobieren, und es gab Lieferengpässe. Das ist abgeebbt. Mit Blick auf unsere Patient*innen kann ich sagen, dass die meisten, die diese Medikamentengruppe verwenden, sehr davon profitieren. Nicht nur die Kilos schwinden, auch die Lebensqualität und die gesundheitlichen Werte verbessern sich. Wir Ärzt*innen verschreiben Wegovy und Co. ja nicht aus kosmetischen Gründen, sondern um die Gesundheit zu verbessern. Für die Adipositastherapie sind die Spritzen eine echte Bereicherung. Bei Menschen mit Typ 2 Diabetes übernimmt die Kasse die Kosten, ihnen verschreiben wir Ozempic oder Mounjaro. Wegovy oder Mounjaro werden bei Menschen mit Adipositas ohne eine zusätzliche Diabetes-Erkrankung nicht von den Krankenkassen bezahlt.
Erklären Sie bitte noch mal kurz, was die Abnehmspritze so effizient macht.
Die Spritze ahmt das körpereigene Hormon GLP-1 nach, das nach der Nahrungsaufnahme aus dem Magen-Darm-Trakt ausgeschüttet wird. Im Gehirn bewirkt GLP-1 nicht nur ein Sättigungsgefühl, sondern auch, dass man nicht mehr dauernd an das Essen denkt. Dieser “food noise” nimmt deutlich ab. Für die Betroffenen ist das unglaublich entlastend – wie die Befreiung von einer Sucht.
Ist dieser food noise, also das ständige Denken an Essen, tatsächlich so ein Problem?
Für adipöse Menschen ja. Es läuft sozusagen in Dauerschleife. In der Medizin haben wir in den letzten Jahren viel über die Neurobiologie der Adipositas gelernt – und warum es stark übergewichtigen Menschen so schwerfällt, abzunehmen.
Warum ist das so?
Für den Körper ist das höchste je erreichte Gewicht der Referenzwert. Dieses Gewicht möchte er immer wieder erreichen. Wenn es unterschritten wird, empfindet das der Körper als Bedrohung und startet viele Mechanismen, um die Person dazu zu bewegen, wieder mehr zu essen und zuzunehmen. Er produziert übermäßig Hungerhormone und senkt den Grundumsatz ab, um weniger Energie zu verbrauchen. Im zentralen Nervensystem werden Rezeptoren aktiviert, die ein Hungergefühl auslösen und adipöse Menschen dauernd über Essen nachdenken lassen. Gegen diese Biologie allein mit Disziplin anzukämpfen, schaffen die Allermeisten nicht.
Wer genau kommt zu Ihnen?
Sieben von zehn sind Frauen. Die meisten haben einen langen Leidensweg hinter sich und sind verzweifelt, weil sie einfach nicht abnehmen, obwohl sie viel versucht haben. Denn nur zehn Prozent der Menschen erreichen eine langfristige Gewichtsreduktion durch Lebensstilumstellung, 90 Prozent nehmen wieder zu. In den neuen Leitlinien steht als erster Satz, dass Adipositas eine chronische Erkrankung ist. Das ist vielen Menschen nicht bewusst, vor allem den schlankeren.
Wenn jemand nur seinen BMI von 24 auf 19 senken möchte, hat eine Abnehmspritze medizinisch gesehen keinen Benefit, sondern ist eine rein kosmetische Therapie. Das sollte man nicht machen.
Prof. Jens Aberle
Selbst die Schlanken greifen, zum Beispiel in Hollywood, gerne mal zu einer Abnehmspritze, um sich für eine Oscar-Verleihung in Kleidergröße 32 zu hungern. Wie sehen Sie das als Arzt?
Dafür sind die Medikamente definitiv nicht gemacht, ich würde sie für eine solche Indikation nie verschreiben. Wir halten uns da an die Leitlinien, die eine Verschreibung ab einem Body Mass Index von 30 vorsehen. Menschen, die bereits unter einer Begleiterkrankung leiden, können es schon ab einem BMI von 27 verschrieben bekommen. Wenn jemand nur seinen BMI von 24 auf 19 senken möchte, hat eine Abnehmspritze medizinisch gesehen keinen Benefit, sondern ist eine rein kosmetische Therapie. Das sollte man nicht machen.
Für wen ist die Abnehmspritze also geeignet?
Für Übergewichtige, die schon verschiedene Ernährungstherapien und Diäten versucht haben, ohne bleibend Gewicht zu verlieren. Oder wenn jemand mit Adipositas trotz Medikamenten einen sehr hohen Blutdruck oder andere Begleiterkrankungen wie einen beginnenden Diabetes hat.
Wie erleben Ihre Patient*innen die Nebenwirkungen?
Die meisten leiden unter Übelkeit, vor allem am Anfang. Sie tritt unterschiedlich stark auf, in schlimmeren Fällen führt es zu Erbrechen. Viele Patient*innen erleben nach etwa sechs Monaten Therapie eine Trägheit im Magen-Darm-Trakt. Eine sehr seltene Nebenwirkung sind zudem Gallensteine und Entzündungen der Bauchspeicheldrüse.
Übelkeit und hohe Kosten nehmen viele Übergewichtige offenbar gerne in Kauf, weil das Medikament so wirksam ist?
Es gibt natürlich Menschen, die so stark unter den Nebenwirkungen leiden, dass sie das Medikament wieder absetzen. Aber für jene, die gut darauf ansprechen, ist es tatsächlich eine lebensverändernde Therapie. Sie sagen: “Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich wirklich substanziell Gewicht abgenommen” und sind sehr glücklich. Das ist auch für uns Behandelnde ein schöner Kontakt.
Was ist mit Muskelverlust?
Den gibt es – wie immer bei Gewichtsreduktion. Wenn Sie zehn Kilo abnehmen, sind drei davon Muskelmasse. Das ist insofern von Bedeutung, weil man mit der Muskelmasse auch Grundumsatz einbüßt, also weniger Energie pro Tag verbraucht. Aber das Problem ist händelbar. Wir raten Patient*innen, Krafttraining zu machen und auf die Eiweißaufnahme zu achten.
Eine Sabovon mir hat das Medikament wieder abgesetzt, weil ihr das Leben nicht mehr so viel Spaß gemacht hat, das Essen, mal ein Gläschen Wein, das konnte sie alles nicht mehr genießen. Begegnet Ihnen das auch manchmal?
Klar, das gibt es. Diese Komponente des Lebensgenusses nimmt zumindest in den ersten Monaten ab. Das ist auch bei einer Magenverkleinerung so. Wenn einem das mental nicht guttut, ist es die falsche Therapie. Aber das betrifft eher wenige.
Wird die Magenverkleinerung durch die Abnehmspritze irgendwann überflüssig?
Beide Therapien haben ihre Daseinsberechtigung. Eine 35-Jährige mit Bluthochdruck und einem BMI über 35 wird nicht die nächsten 40 Jahre ein GLP-1-Medikament bezahlen wollen, sondern eher eine Magen-OP wählen. An unserer Klinik machen wir jedes Jahr mehr als 400 Adipositas-Operationen. Der durchschnittliche BMI der Patient*innen liegt bei 52. Für diese Menschen bleibt die Operation eine wichtige Option, weil sie dauerhaft ist und einen größeren Gewichtsverlust ermöglicht.
Gilt nach wie vor, dass die Spritze lebenslang verwendet werden muss?
Man kann selbstverständlich jederzeit aufhören. Aber damit hört auch die Wirkung auf. Darum ist es wichtig, sich während der Therapie auf die Phase danach vorzubereiten.
Worauf kommt es da an?
Die Abnehmspritze hilft, die Essgewohnheiten zu verändern. Viele meiner Patient*innen berichten mir, dass sie keine Lust mehr auf Junkfood und Süßes haben. Das spart, nebenbei bemerkt, auch Geld. Während der Therapie sollte man die gesündere Ernährung möglichst so verinnerlichen, dass man sie danach aufrechterhalten kann.
Das funktioniert? Oft heißt es, auch seitens der Hersteller, dass die Menschen nach Absetzen wieder schnell zulegen.
Für einen Teil stimmt das. In unserer klinischen Praxis ist es etwa die Hälfte der Patient*innen. Die anderen allerdings, die die Zeit der Einnahme genutzt haben, um einen neuen Lebensstil zu etablieren, schaffen es, das Gewicht zu halten. Das belegen auch neuere Studien. Wir dürfen nicht unterschätzen, wie motivierend so eine Gewichtsabnahme ist. Eine meiner Patient*innen hatte in einem Jahr mit Wegovy rund 20 Kilo abgenommen und dann abgesetzt. Neun Monate später kam sie zu mir und hatte ihr Gewicht gehalten. Auf meine Frage, wie sie es schaffe, sagte sie: “Hören Sie mal, ich habe das Paradies kennengelernt. Glauben Sie, das gebe ich wieder her?”
Eine aktuelle Studie untersucht, ob die Wirkstoffe Demenz verlangsamen oder gar stoppen können. Das wäre spektakulär.
Prof. Jens Aberle
Neuere Studien deuten darauf hin, dass es noch weitere positive Effekte der Abnehmspritze gibt.
Ja, es gibt eine ganze Reihe von Publikationen, die den Schluss nahelegen, dass zum Beispiel Schlafapnoe oder Gelenkbeschwerden besser werden, die Leber- und die Nierenfunktion profitieren. Eine Untersuchung hat gezeigt, dass die Menschen weniger Herzinfarkte bekommen, es ist sogar von einer verringerten Krebswahrscheinlichkeit die Rede. Eine aktuelle Studie untersucht, ob die Wirkstoffe Demenz verlangsamen oder gar stoppen können. Das wäre spektakulär.
Und wie steht es um die Langzeit-Nebenwirkungen?
In der Diabetes-Therapie nutzen wir GLP-1 basierte Medikamente seit etwa 20 Jahren. Und bislang zeigen sich keine substanziellen Nebenwirkungen einer längeren Behandlung. Dennoch wird die Therapie natürlich ständig beobachtet und Empfehlungen zur Behandlung werden regelmäßig aktualisiert.
Manche Forscher*innen vergleichen die revolutionäre Wirkung der Abnehmspritze mit der Entdeckung des Antibiotikums. Zu Recht?
Das wird die Zukunft weisen. Die Medikamente haben in der Tat vielversprechende Aspekte. Sobald sie deutlich günstiger werden, wird ihre Bedeutung weiter wachsen.
Können sie uns als Gesellschaft gesünder machen?
Dafür sind sie noch zu teuer. In Deutschland ist jeder Fünfte stark übergewichtig. Wir können nicht 20 Prozent der Bevölkerung mit kostspieligen Medikamenten versorgen. Wichtiger wäre, unsere Umweltbedingungen so zu gestalten, dass es schwerer wird, dick zu werden. Zum Beispiel durch die Besteuerung von adipösen Lebensmitteln.
Liegen die Kosten immer noch so hoch?
Für Wegovy wurden die Preise im April gesenkt. In der Anfangsdosis kostet es jetzt rund 170 Euro pro Monat. Mounjaro mit dem Wirkstoff Tirzepatid ist zwar laut einer aktuellen Vergleichsstudie effektiver, aber auch deutlich teurer: Hier kostet die höchste Monatsdosis bis zu 480 Euro, die Einstiegsdosis um die 200 Euro. Darum bleiben viele unserer Patient*innen bei Wegovy und der Dosis von einem Milligramm pro Monat. Das ist zwar nicht die Zieldosis, aber in der Kosten-Effektivitätsrechnung das Sinnvollste.
Werden die Preise denn langfristig sinken?
Auf jeden Fall. Für den Wirkstoff Liraglutid, der in dem Mittel Saxenda steckt, ist der Patentschutz abgelaufen, dafür gibt es schon ein Generikum, also ein Nachahmer-Medikament. Auch für Ozempic laufen die Patente in manchen Ländern bereits nächstes Jahr aus. Viele Pharmafirmen arbeiten intensiv an Generika, die spürbar günstiger sind. Das wird auch bei uns kommen, es ist nur eine Frage der Zeit.
Eine Übersicht der Marken und Wirkstoffe der Abnehmspritze
Ozempic® arbeitet mit dem Wirkstoff Semaglutid und ist Menschen mit Diabetes vorbehalten. Hersteller: Novo Nordisk.
Wegovy® – ebenfalls aus der Semaglutid-Gruppe und von Novo Nordisk. Für Menschen mit starkem Übergewicht.
Mounjaro® ist von Eli Lilly, setzt auf den Wirkstoff Tirzepatid und ist teurer als Wegovy, allerdings auch wirkungsvoller. Seit Anfang 2024 in Deutschland erhältlich.
Saxenda® mit dem Wirkstoff Liraglutid wird von Novo Nordisk nicht mehr hergestellt und ist deshalb kaum mehr erhältlich.
Interview: Barbara Esser
