„Wenn du es nicht mit eigenen Augen siehst, wirst du immer Zweifel haben“

„Er klang ein bisschen niedergeschlagen“, sagt Ruby Chen. Der Israeli erzählt von dem letzten Gespräch, das er mit seinem Sohn Itay führte. „Er hat mir gesagt, dass er gerne mehr beitragen würde“ – im Allgemeinen, aber auch in der Armee. Itay war 19 Jahre alt, er leistete seinen Militärdienst in einer Panzereinheit in Nahal Oz im Süden Israels, direkt an der Grenze zum Gazastreifen. Das ganze Land war im Feiermodus: Alle begingen Sukkot, das Laubhüttenfest – nur Itay war auf der Basis mitten im Nirgendwo. Seine Familie wollte ihn aufmuntern, ihm eine Pizza bestellen und zur Basis liefern lassen.

Doch Itay sagte: Lass uns das doch morgen machen. „Und dieses Morgen ist nie gekommen“, erzählt sein Vater.

Am frühen Morgen des 7. Oktober 2023 wurde der Panzer, in dem sich Itay mit seiner Einheit befand, von Hamas-Terroristen angegriffen. Heute weiß man, dass alle Kameraden Itays im Panzer verbrannten, bis auf einen: Matan Angrest, der aus dem brennenden Vehikel gezerrt und lebend nach Gaza verschleppt wurde. Auch Itay wurde nach Gaza gebracht – doch da war er bereits tot.

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Itay Chen ist eine der toten Geiseln der Hamas: „Er war immer voller Energie“

Es dauerte fünf Monate, bis seine Familie die Nachricht seines Todes bekam. Bis dahin waren sie im Ungewissen: „Als die Armee zum Panzer kam, in dem Itay steckte, fand man keine forensischen Spuren – kein Blut, nichts“, sagt Ruby. „Wir hatten keinen Hinweis darauf, ob er lebt oder gestorben ist. Wir haben gesagt: Wenn wir keine schlechten Nachrichten bekommen, dann gehen wir davon aus, dass es gute gibt.“ Die Familie lebte im Gedanken, dass Itay noch am Leben war. Sie konnten ihn sich nur lebend vorstellen.

„Er war immer voller Energie“, sagt Ruby. „Als zweiter von drei Söhnen war er in einer herausfordernden Position, musste erst seinen Weg finden.“ Er fand ihn – bei den Pfadfindern. Dort tobte er sich aus, später auch im Basketball, an der Kletterwand. „Er war einer, der etwas bewegen wollte.“

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Seine Familie kämpfte um Itays Rückkehr, reiste in die USA und nach Deutschland

Im März 2024 kam die Schreckensnachricht: Die Armee erklärte Itay für tot. Laut Geheimdienstinformationen gehe man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon aus, dass der 19-Jährige nicht mehr am Leben sei, sein Leichnam aber als Faustpfand festgehalten werde, hieß es.

Itay war deutscher Staatsbürger – die Großmutter mütterlicherseits stammte aus Bayern. Die Familie Chen – Vater Ruby, Mutter Hagit, die Brüder Roy und Alon – kämpften unaufhörlich für die Rückkehr Itays nahmen unzählige Reisen auf sich. „Ich bin 14 Mal nach Washington geflogen, meine Eltern 25 Mal“, sagt Roy, der ältere Bruder Itays. Es gab Dutzende Treffen mit Vertretern der Regierung von US-Präsident Joe Biden, und nach dem Regierungswechsel dann mit dem Team von Donald Trump.

Auch in Deutschland war die Familie, hat Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) getroffen. „Viel Mitgefühl“ habe man in Deutschland erhalten, sagt Ruby – doch habe die Regierung weniger Druck ausgeübt, als man sich das erwartet hätte.

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Itay ist die letzte deutsche Geisel in den Händen der Hamas

Er habe versucht, Trumps Abgesandten Steve Witkoff zu überzeugen, dass der Deal zu wenig Druck für die Rückgabe der toten Geiseln aufbaue, sagt Ruby. Der Deal habe „viele Löcher“, es gebe keine Sanktionen für die Hamas, wenn sie tote Geiseln zurückbehält – das war Ruby schon bewusst, bevor der Deal unterzeichnet wurde. Und jetzt stehe man genau an jenem Punkt, den er vorausgesehen hatte: Immer noch befinden sich 13 tote Geiseln in der Gewalt der Terroristen. Einer von ihnen ist Itay – und er ist die letzte deutsche Geisel, die noch in Gaza festgehalten wird.

Dass die Hamas keine Möglichkeit habe, auf die Geiseln zuzugreifen, kann Ruby Chen nicht glauben. „Das ist doch die Vereinbarung, die unterschrieben wurde: Die Hamas hat sich verpflichtet, alle 48 Geiseln zu übergeben“, sagt Chen. „Das heißt, sie waren zuversichtlich, dass sie wissen, wo sie sich befinden.“

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Für die Familie Chen ist nichts vorbei

Nach der Rückkehr der 20 lebenden Geiseln war Israel in einer Jubelstimmung, im ganzen Land wurde gefeiert. US-Präsident Donald Trump ließ sich vor dem israelischen Parlament dafür feiern, dass „es jetzt vorbei“ sei.

Doch für die Familie Chen ist nichts vorbei. Nach dem 7. Oktober sei die Familie „in eine andere Dimension katapultiert worden“, erzählt Ruby Chen. „Ich bin eine wandelnde Leiche, den anderen in meiner Familie geht es genauso. Wir brauchen Itay zurück, damit wir das abschließen und zum nächsten Kapitel weiterblättern können.“

Itays älterer Bruder Roy war vor dem 7. Oktober ein gefragter Programmierer. „Seitdem Itay weg ist, programmiere ich nicht mehr“, sagt der 24-Jährige. „Solange wir für die Rückkehr der Geiseln kämpfen, kann ich nicht dorthin zurück. Ich kann an gar nichts anderes denken.“ Er engagiere sich in der Protestbewegung für die Rückkehr der Geiseln und versuche von der Unterstützung zu leben, die er vom israelischen Staat erhält.

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Um Abschied nehmen zu können, braucht die Familie den Leichnam zurück

„Viele Leute kapieren nicht, was es mit den toten Geiseln auf sich hat“, meint Roy. Der Fokus der Öffentlickeit liege auf den lebenden Geiseln – die Toten könne man ja nicht mehr retten, so wird argumentiert. „Aber auch Itay war ein 19-Jähriger voller Träume darüber, was er mit seinem Leben machen wollte“, sagt Roy. Um von seinem Bruder Abschied nehmen zu können, brauche die Familie ihn zurück.

Das hat viel mit dem jüdischen Glauben zu tun. „In der jüdischen Tradition lebt die Seele ewig, und der Körper ist ein Gehäuse, der die Seele festhält, bis sie weiterwandert“, erklärt Ruby Chen. „Wir sagen ‚Ruhe in Frieden‘ – der Körper soll ruhen, damit die Seele wandern kann.“

Daher müssen Leichname so bald wie möglich nach dem Todeseintritt bestattet werden. Danach begeht die Familie die Trauerwoche, die siebentägige Shiva.

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Der Zweifel lässt sich für Familie Chen nicht ausräumen

Obwohl Itay schon im März 2024 für tot erklärt wurde, ist seine Familie bis heute nicht zur Shiva zusammengesessen. „Wir sind als Familie nicht in der Lage zu trauern, wir stecken ja noch immer mitten im Kampf, um meinen Sohn zurückzukriegen“, sagt Ruby Chen. Ganz leise ist da noch dieser Zweifel, ob nicht doch alles nur ein schlechter Traum war. „Ohne, dass es etwas Körperliches gibt, etwas, was du mit eigenen Augen siehst, wirst du immer Zweifel haben“, sagt Ruby Chen – und die Hoffnung, dass Itay vielleicht doch noch am Leben ist.

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Einer, der diese Hoffnung zerstreuen kann, ist Matan Angrest: Der Kamerad aus Itays Einheit hat die letzten Minuten vor Itays Tod mit ihm verbracht. Vor eineinhalb Wochen kam Matan nach Israel zurück – nach 737 Tagen in Hamas-Gefangenschaft.

„Wir hatten gestern Gelegenheit, mit Matan zu sprechen“, sagt Ruby Chen. Die Geschehnisse vom 7. Oktober, die letzten Momente von Itays Leben habe man aber nicht thematisiert. „Es ist sehr traumatisierend für ihn, diese Momente seines Lebens noch einmal durchzugehen. Wir haben gesagt, wir geben ihm Zeit dafür.“

Matan habe der Familie Chen zugesagt, dass er ihnen helfen werde: „Er hat gesagt, dass er mit uns kämpfen wird, die Geiseln zurückzubringen – und dass er alles tun wird, damit das geschieht.“

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