Roman
Yulia Marfutova „Eine Chance ist ein höchstens spatzengroßer Vogel“ – Was die Mäuse wissen
Yulia Marfutovas neuer Roman nutzt Mäuse als Erzähler, um die Suche dreier Schwestern nach ihrer Familiengeschichte literarisch zu inszenieren.
Erinnerungen sind so einflussreich und luftig, so prägend und unzuverlässig, und immer das, worauf sich der Mensch am allermeisten verlassen wird – sie sitzen im Kopf, näher ist nichts, und wenn man selbst merkt, dass da etwas nicht in Ordnung ist, wird man vielleicht schon hilflos, verzweifelt und wütend.
Mit den Erinnerungen der anderen ist es etwas anderes. Da spürt man, wie dürftig sie sind, oft auch: wie unwahrscheinlich. Das interessiert einen auch nicht unbedingt oder jedenfalls nicht in der Ausführlichkeit, in der die Erinnerungen der anderen sich ergießen können. Wenn es um die eigene Familie geht, gibt es diesen Moment, in dem man darauf lauert, selbst ins Spiel zu kommen. Jetzt lernen sich die Eltern kennen, jetzt verlieben sie sich ineinander.
Hier ist es vom zeitlichen Ablauf her so, dass die älteste der drei Schwestern, die etwas aus dem Leben ihrer Mutter erzählt bekommen, am Ende noch vorkommen könnte. Oder auch nicht. „Was bedauerlich wäre, denn am meisten interessieren wir uns für uns selbst.“ Das ist hier hart und zart dahingesagt, mit einer kindlichen Arglosigkeit, der nicht zu widerstehen und die schon gar nicht übelzunehmen ist. Die Schwestern sind siebzehn, sechzehn und zehn, wie sie nicht müde werden zu betonen, noch nicht erwachsen, noch nicht ausgewachsen.
Wie erzählen vom größten Schrecken?
„Eine Chance ist ein höchstens spatzengroßer Vogel“ ist also ein Roman über Erinnerungen und voller Erinnerungen. Der Coup dieses äußerst schmalen, aber dafür bis zum Rand gefüllten Buches, um das gleich hinauszuposaunen, ist die von der Autorin Yulia Marfutova eingesetzte Erzählinstanz: ein Mäusekollektiv. Das ist possierlich und E.T.A.-hoffmannesk romantisch – das Trappeln und das Piepen, „das wichtigtuerische Mäusefiepsen“, denn die Tierchen wissen zwar überhaupt nicht alles, aber das geben sie nicht unbedingt zu. Man hört geradezu, wie sie gelegentlich improvisieren und mit dem Geschehen durcheinanderkommen.
Es ist lustig und auch eine satirische Grundlage, sich Mäuse als allwissenden Erzähler vorzustellen, der sich jetzt hier aufbaut und den Kindern was erzählt. Es ist aber nicht nur satirisch. Es hat etwas Plausibles, dass Mäuse kundig sind und doch naturgemäß eine Distanz zu den menschlichen Schicksalen haben. Sie sind außerdem leise, lebhaft, aber leise. Man muss selbst leise sein, um alles mitzubekommen.
Das schmale Buch mit dem langen Namen – einem Satz von der vorletzten Seite – ist nach „Der Himmel vor hundert Jahren“ (2021, auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis) der zweite Roman der 1988 in Moskau geborenen Schriftstellerin. Sie ist in Deutschland aufgewachsen, hat promoviert, lehrt in Boston und lebt heute sowohl in den USA als auch hier. Yulia Marfutova, denkt man sich, muss eine der drei zuhörenden Schwestern sein. Es mag in ihr, denkt man sich, auch etwas von der Mutter der drei stecken, Marina, die schon schreibt, bevor sie weiß, dass sie eine Schriftstellerin sein könnte. Das Schreiben ist einfach das, was sie tut.
Keinen Zweifel wird man daran haben, dass die Geschichte eine private, familiäre Seite hat. Die Mäuse sind auch dazu nützlich, diese Seite nicht zu groß werden zu lassen. Sie schaffen einen kleinen Abstand, zum Entsetzlichen, das sich in der Handlung auftun wird. Aber auch zum möglicherweise Sentimentalen, das hier restlos fehlt – anders als das damit gelegentlich verwechselte Poetische, mit dem Marfutova kunstvoll umgeht. Drei Mädchen, die eigentlich nichts von ihrer Mutter wissen, erkundigen sich bei Mäusen nach der Familiengeschichte. Das kann gar nicht sein. Genau, das kann gar nicht sein. Aber da steht es doch. Stimmt, da steht es.
Diese bezwingende Macht des herbeifantasierten und aufgeschriebenen Wortes spiegelt sich auch im Verlauf der Handlung. Marina ist da noch ein Kind, die von einem Leben jenseits der UdSSR träumt, in der großen weiten Welt, in Amerika. Ein Cousin ihrer Freundin Vera ist wirklich ins Ausland gegangen. Als er einen todlangweiligen Brief schickt, schreiben Marina und Vera einen neuen, spannenden, einen Brief, wie ein Ausgewanderter ihn heimschicken sollte. Der Brief kommt im Umlauf, anderen fällt auch etwas dazu ein, wie es dort draußen in der Welt sein müsste, und sie schreiben etwas dran, schreiben etwas Neues. Fiebriges Fernweh kommt die Menschen an.
Marina hat sich das alles ausgedacht, aber sie ist auch skeptisch. Wie mag es in Wirklichkeit sein, in Amerika? „Aber es steht doch alles in unserem Brief. Was ist das für eine dumme Frage?, sagt Vera. Marina traut sich nicht weiterzufragen, es stimmt ja. Ich habe einen Brief aus Amerika geschrieben, murmelt Marina vor sich hin. Ich habe einen Brief aus. Ich habe. Ja, ich. Es braucht nicht wahr zu sein, um wahr zu sein.“
Das Buch
Yulia Marfutova: Eine Chance ist ein höchstens spatzengroßer Vogel. Roman. Rowohlt, Hamburg 2025. 144 S., 22 Euro.
Aus zwei Gründen muss „Eine Chance ist ein höchstens spatzengroßer Vogel“ so umständlich von Mäusen erzählt werden. Wobei das nur theoretisch umständlich ist, praktisch ist es leicht und häufig gewitzt und unmittelbar (aber aufpassen muss man schon). Der eine Grund liegt eben darin, dass die drei Schwestern sonst niemanden haben, der ihnen etwas über ihre Mutter und ihre Großmutter, Nina, erzählen könnte. Die Großmutter hat in einem anderen Land gelebt und ist inzwischen tot. Die Mutter hat sich im neuen Land ein Leben aufgebaut. Sie schweigt, was die Vergangenheit betrifft. Es gibt keine weitere Informationsquelle, es gibt auch sonst nur wenige Verwandte. „Glück ist wohl das falsche Wort dafür“, heißt es einmal, „dass man kaum noch Verwandtschaft irgendwo hat, um die man Sorge haben müsste.“
Die Mäuse, „die alles wissen, weil sie es sich seit Abertausenden von Jahren zur Aufgabe gemacht haben, das Verhalten der Menschen zu studieren, von deren Abfällen sie sich ernähren“, sind besser als nichts.
Der andere Grund liegt darin, dass das Schweigen Marinas und Ninas kein Zufall ist. Es dauert, bis zum ersten Mal erwähnt wird, dass sie aus einer jüdischen Familie kommen, dass das unter Punkt fünf (Nationalität) im sowjetischen Pass steht, dass es aber immer schon darum gegangen ist, damit so wenig wie möglich aufzufallen. Unauffällige Namen gehören dazu.
Es gehört auch dazu, nicht zu viel an früher zu denken. Nina ist in der Küche laut und schlampig, „eine eigentümliche Zelebration dessen, dass sie nicht mehr in der Kommunalka wohnen; so wie Ninas versalzenes, in Fett schwimmendes Essen nicht von haushaltlichem Desinteresse zeugt, nun, nicht nur, sondern von einer Kindheit im Krieg, vom Hunger in der Evakuierung“. Stalin hat Menschen verschieben, verschleppen, verhungern lassen. Darüber spricht sie nicht, wie die Eltern mit ihr nicht darüber gesprochen haben. „Ein Wort, das Nina nie von den eigenen Eltern gehört hat, das Marina wiederum nie aus Ninas Mund hören soll, auch nicht, als es bekannter wurde: Holodomor.“
Auch Gorbatschow und die Perestroika sind für die junge Marina noch nicht so leicht zu verstehen. Was sie versteht, ist allmählich aber, dass der Punkt fünf im Pass immer schwerer zu ignorieren ist. Bei einem Treffen junger Ausreisewilliger, noch märchenhaft konspirativ eingefädelt, geht es „um Zionismus und Antizionismus. Es geht um das völlig undenkbare, das plötzlich wieder sehr denkbare Wort Pogrom“.
Soll nicht auffallen, dass sie jüdisch sind
Zuhause sagt Marina zu Nina: „Ob die Mutter denn nicht gesehen habe, dass jemand in die Bank vor ihrem Haus Zionistenschweine geritzt habe? Daneben steht: Tod den Zionisten. Um Missverständnisse zu vermeiden, hat der Schreiber den Begriff Zionisten wieder durchgestrichen, durch Juden ersetzt.“ Nina sieht nur: Will ihre Tochter etwa weg?
Das Schweigen setzt sich fort. „An uns – siebzehn, sechzehn und zehn – gibt es erst recht keine Erinnerungen weiterzugeben. Es ist das Los der Nachgeborenen, sagen die Mäuse. Als Enkelkind auf die Welt zu kommen, ist Privileg und Bürde zugleich.“ Manchmal haben die Mäuse eine didaktische Anwandlung und empfehlen eine Internetseite. Manchmal müssen die Schwestern googeln. „Muss uns peinlich sein, dass wir googeln müssen? Weshalb denn? Wir sind siebzehn, sechzehn und zehn und haben im Geschichtsunterricht nicht gelernt, was wir jetzt gerne wüssten.“ Man selbst wird auch googeln und das Foto „Der letzte Jude in Winniza“ anschauen.
Die Mäuse werden manchmal auch genau und konkret, erzählen ohne Gezappel. Dann stellen sie wieder fest: „Etwas stimmt hier nicht“, und blättern aufgeregt in ihren Papieren. Selbstverständlich stimmt hier etwas nicht. Alles schwankt. Mäuse und Bücher und, ja, auch das Internet können trotzdem weiterhelfen.